Lovesong
hast, und sofern es keine Komplikationen gibt – wie Infektionen aufgrund der Milzentfernung, eine Lungenentzündung oder andere Probleme mit der Lunge –, dann bist du raus aus dem Krankenhaus und kannst in die Reha gehen«, erklärte die Sozialarbeiterin. »Physiotherapie, Beschäftigungstherapie, Sprachtherapie – alles, was du brauchst. In ein paar Tagen werden wir sehen, wie weit du bist.« Von dieser ganzen Litanei war mir ganz schwindelig, doch Mia schien sich jedes ihrer Worte genau anzuhören, schien den Details der bevorstehenden Operationen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den fürchterlichen Nachrichten im Hinblick auf ihre Familie.
Später an diesem Nachmittag nahm die Betreuerin uns alle zur Seite. Wir – Mias Großeltern und ich – waren besorgt gewesen angesichts Mias Reaktion, beziehungsweise darüber, dass sie so gar keine Reaktion gezeigt hatte. Wir hatten erwartet, dass sie schreien, sich die Haare raufen würde, irgendeine Art Ausbruch, der den schrecklichen Nachrichten gerecht wurde, der unserem eigenen Schmerz entsprach. Ihr unheimliches Schweigen hatte uns alle auf denselben Gedanken gebracht: ein Gehirnschaden.
»Nein, daran liegt es nicht«, versicherte uns die Sozialarbeiterin rasch. »Das Gehirn ist ein zerbrechliches Etwas, und wahrscheinlich erfahren wir erst in ein paar Wochen, welche Gehirnbereiche beschädigt wurden. Aber junge Leute sind überaus zäh, und die behandelnden Neurologen sind absolut zuversichtlich. Ihre motorischen Fähigkeiten sind grundsätzlich sehr gut. Ihr Sprachzentrum scheint so gut wie keinen Schaden genommen zu haben. Ihre rechte Seite ist etwas schwächer, und ihr Gleichgewichtssinn scheint ein wenig gestört. Wenn ihre Schädelverletzung keine schlimmeren Schäden verursacht hat, dann kann sie sich glücklich schätzen.«
Bei diesem Wort zuckten wir alle unwillkürlich zusammen. Glücklich. Doch die Betreuerin sah uns allen fest ins Gesicht. »Sie kann sich sogar überaus glücklich schätzen, denn all diese Schäden sind reversibel. Und was ihre Reaktion da drinnen anbelangt«, meinte sie mit einer Geste in Richtung Intensivstation, »so ist diese typisch für ein solch heftiges psychisches Trauma. Das Gehirn kann Informationen nur bis zu einem gewissen Grad verarbeiten, weshalb es Teile herausfiltert und diese erst nach und nach durchsickern lässt. Irgendwann wird sie das komplette Ausmaß der Katastrophe begreifen, doch dazu benötigt sie Hilfe.« Dann klärte sie uns auf über die verschiedenen Stadien der Trauer, überschüttete uns mit Infoblättern zum Thema Posttraumatisches Stresssyndrom und empfahl uns einen krankenhausinternen Trauerbegleiter für Mia. »Vielleicht wäre das für Sie alle gar keine schlechte Idee«, meinte sie.
Wir hatten nicht auf sie gehört. Mias Großeltern wollten mit Therapeuten nichts zu tun haben. Und was mich betraf, so machte ich mir um Mias Genesung Sorgen, nicht um meine eigene.
Die nächste Runde an Operationen schloss fast nahtlos an, was ich ziemlich grausam fand. Mia war gerade erst dem Tod von der Schippe gesprungen, musste dann erfahren, dass ihre Familie ums Leben gekommen war, und schon kam sie wieder unters Messer. Hätten sie dem armen Mädchen nicht wenigstens eine kurze Auszeit gewähren können? Doch die Sozialarbeiterin hatte uns erklärt, dass, je eher man sich um Mias Bein kümmerte, umso früher auch der Heilungsprozess in Gang kommen würde. Also wurde ihr Oberschenkelknochen mit Nägeln durchbohrt; Hautgewebe wurde entnommen. Und so schnell, dass es mir fast den Atem verschlug, wurde sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen und in eine Reha-Klinik geschickt, die eher wie eine nette kleine Wohnanlage aussah mit all den flachen Pfaden, die sich durch das Gelände zogen und an deren Rändern schon die ersten Frühlingsblumen zu sprießen begannen, als Mia dort eingeliefert wurde.
Sie war nicht ganz eine Woche dort gewesen, eine grauenvolle Woche, während der sie entschlossen die Zähne zusammengebissen hatte, als der Brief eintraf.
Juilliard. Früher hatte diese Schule für mich so viele verschiedene Dinge bedeutet. Eine ausgemachte Sache. Ein Grund, stolz zu sein. Eine Rivalin. Und dann hatte ich sie völlig vergessen. Ich glaube, so ging es uns allen. Aber außerhalb der Reha-Klinik ging das Leben weiter seinen Gang, und irgendwo dort draußen in der Welt existierte immer noch diese andere Mia – die Mia, die noch beide Elternteile hatte, einen Bruder und einen voll
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