Lovesong
dafür, dass ich so unfassbar wütend war, als ich erst mal weg war von dir. Ich schätze, dass ich irgendwo tief drinnen immer wusste, dass du mich gebeten hattest, zu bleiben – lange bevor ich mich tatsächlich daran erinnerte. Kannst du das irgendwie nachvollziehen?«
Nein. Ja. Keine Ahnung. »All das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn«, sage ich.
»Ich weiß. Aber ich war nun mal sauer auf dich. Ich wusste auch nicht, warum. Ich war auf die ganze Welt wütend. Dafür kannte ich den Grund. Ich hasste alle meine Therapeuten dafür, dass sie mir nicht helfen konnten. Ich war ein einziger Klumpen aus selbstzerstörerischer Wut, und keinem von ihnen ist irgendwas anderes eingefallen, als mir zu sagen, dass ich ein Klumpen aus selbstzerstörerischer Wut sei. Bis ich Nancy traf, hat mir keiner von ihnen annähernd so gut geholfen wie meine Profs an der Juilliard. Mir war ja klar, dass ich wütend war. Hätte mir bitte mal jemand erklären können, was ich mit dieser Wut anstellen sollte? Jedenfalls hat Ernesto mir dann eine Hypnotherapie empfohlen. Wahrscheinlich weil es ihm selbst geholfen hat, mit dem Rauchen aufzuhören.« Sie stupst mir mit dem Ellbogen in die Rippen.
Natürlich raucht Mr Perfect nicht. Und natürlich ist er derjenige, der Mia dazu gebracht hat, die Gründe herauszufinden, weshalb sie mich hasst.
»Ich bin ein gewisses Risiko eingegangen«, fährt Mia fort. »Bei einer Hypnose kommen gern verborgene Erinnerungen zum Vorschein. So manches traumatische Erlebnis ist einfach zu viel für unser Bewusstsein. Es kann damit nicht umgehen, und deshalb muss man sich durch eine Hintertür ranpirschen. Ich hab mich also widerstrebend ein paar Sitzungen unterzogen. War alles ganz anders, als ich erwartet hatte. Kein schwingendes Amulett, kein Metronom. Es erinnerte mich eher an eine von diesen geführten Reisen durch die Vorstellung, wie wir sie manchmal in den Musik-Camps machen. Zunächst ist gar nichts passiert, und dann bin ich den Sommer über nach Vermont und hab ganz damit aufgehört. Ein paar Wochen später hatte ich dann plötzlich diese Anfälle. Ganz spontan. Zum Beispiel glaubte ich mich auf einmal an eine Operation zu erinnern, konnte eine bestimmte Musik hören, die die Ärzte im Operationssaal laufen hatten. Ich hab schon darüber nachgedacht, ob ich sie nicht hätte anrufen sollen, um zu fragen, ob meine Erinnerung der Wahrheit entspricht, aber es war inzwischen so viel Zeit vergangen, dass ich Zweifel hatte, dass sie sich erinnern würden. Außerdem … mein Dad hat immer gesagt, dass, als ich geboren wurde, ich ihm schon so vertraut vorkam, dass er vollkommen überwältigt war von dem Gefühl, mich schon ein Leben lang zu kennen. Das war witzig, wenn man bedenkt, wie wenig ich ihm oder Mom ähnelte. Doch als ich anfing, mich an Dinge zu erinnern, da war ich überzeugt, dass das alles echt war und diese Erinnerungen wirklich meine eigenen Erinnerungen darstellten. Ich hab die einzelnen Puzzleteile allerdings erst zusammenfügen können, als ich an einem bestimmten Cellostück arbeitete – wenn ich spiele, scheinen mich immer die meisten Erinnerungen zu überkommen –, und zwar Gershwins ›Andante con moto e poco rubato‹.«
Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich bringe erst mal keinen Ton raus. »Das hab ich dir mal vorgespielt«, sage ich endlich.
»Ich weiß.« Sie scheint nicht überrascht von meiner Bestätigung.
Ich lehne mich vor, stecke den Kopf zwischen die Knie und atme ein paarmal tief durch. Ich spüre, wie Mia mir sanft die Hand in den Nacken legt.
»Adam?« Ihre Stimme klingt zaghaft. »Da ist noch mehr. Und das wird jetzt ein bisschen unheimlich rüberkommen. Auf gewisse Weise ergibt es für mich einen Sinn, dass mein Gehirn irgendwie die Ereignisse aufgezeichnet hat, die um mich herum geschehen sind, während ich im Koma lag. Aber da sind auch noch andere Dinge, andere Erinnerungen …«
»Welche denn zum Beispiel?« Meine Stimme ist nichts als ein Flüstern.
»Das Meiste ist irgendwie verschwommen, aber ich erinnere mich ziemlich deutlich an Dinge, die ich gar nicht wissen kann, weil ich sie nicht miterlebt habe. Da ist besonders diese eine Erinnerung. Darin kommst du vor. Es ist dunkel draußen. Und du stehst vor dem Krankenhauseingang im Flutlicht und wartest darauf, mich besuchen zu dürfen. Du hast deine Lederjacke an und siehst hoch zu meinem Fenster. So als würdest du nach mir suchen. Ist das wirklich so gewesen?«
Mia hebt mein Kinn
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