Lovesong
Rücken.
Schnell wischt sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und atmet tief durch. »Hier, nimmst du jetzt endlich dieses Ding oder nicht? Ich hab sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gestimmt.«
Früher habe ich mir ganz ähnliche Szenen erträumt. Mia, auferstanden von den Untoten, steht direkt vor mir, und sie lebt, tritt wieder in mein Leben. Aber in meinen Träumen lief alles immer so glatt, dass mir klar war, dass sie unmöglich echt sein konnten, und ich konnte es jedes Mal gar nicht mehr erwarten, dass endlich der Wecker klingelte. Deshalb lausche ich auch jetzt, in der Erwartung, dass jeden Moment der Wecker schrillt. Doch nichts dergleichen passiert. Als ich meine Finger um den Hals der Gitarre schließe, merke ich, wie echt sich das Holz und die Saiten anfühlen, und schon bin ich zurück auf dem Boden der Realität. Ich bin plötzlich hellwach. Und sie ist immer noch da.
Sie sieht mich an, sieht die Gitarre an, dann das Cello und die Uhr auf dem Fensterbrett. Da wird mir klar, was sie möchte, nämlich dasselbe, das ich mir schon seit Jahren wünsche. Doch ich kann nicht glauben, dass sie mich nach all dieser Zeit, ausgerechnet jetzt, da uns auch noch die Zeit davonrennt, darum bittet. Trotzdem deute ich ein leichtes Nicken an. Sie stöpselt die Gitarre ein, wirft mir das Kabel zu und dreht den Verstärker auf.
»Kannst du mir mal ein A geben?«, bitte ich sie. Mia zupft an der A-Saite ihres Cellos. Ich stimme die Saite und schlage einen A-Moll-Akkord an. Und als der Ton von der Wand widerhallt, da fühle ich, wie mir die elektrische Spannung über den Rücken flattert wie schon ganz lange nicht mehr.
Ich sehe Mia an. Sie sitzt mir gegenüber, das Cello zwischen die Knie geklemmt. Ihre Augen sind geschlossen, weshalb ich weiß, dass sie es wieder tut; sie lauscht nach etwas in der Stille. Und auf einmal scheint Mia gehört zu haben, was sie hören musste. Die Augen sind offen und auf mich gerichtet, so als hätten sie mich die ganze Zeit angeschaut. Sie nimmt den Bogen zur Hand und deutet mit leicht geneigtem Kopf auf meine Gitarre. »Bist du bereit?«, fragt sie.
Da sind so viele Dinge, die ich ihr gern sagen möchte, und in erster Linie ist es das, dass ich schon die ganze Zeit bereit bin. Doch stattdessen drehe ich den Verstärker auf, angle ein Plektron aus der Tasche und sage einfach nur Ja.
21
Es kommt mir vor, als hätten wir stundenlang gespielt, tagelang, jahrelang. Vielleicht waren es auch nur ein paar Sekunden. Ich könnte es nicht genau sagen. Erst spielen wir schneller, dann werden wir wieder langsamer, wir bringen unsere Instrumente zum Kreischen. Wir werden ernst. Wir lachen. Wir werden still. Dann wieder laut. Mein Herz hämmert, der Groove geht mir ins Blut, mein ganzer Körper vibriert, als mir wieder ins Bewusstsein kommt: Ein Konzert bedeutet nicht, wie eine Zielscheibe vor Tausenden von Fremden zu stehen. Es bedeutet, mit anderen zusammenzukommen. Es bedeutet Harmonie.
Als wir endlich eine Pause einlegen, bin ich schweißgebadet, und Mia keucht schwer, als hätte sie gerade einen kilometerlangen Sprint hingelegt. Schweigend sitzen wir da, während unser keuchender Atem sich langsam wieder beruhigt und unsere Herzschläge sich normalisieren. Ich sehe auf die Uhr. Es ist schon nach fünf. Mia folgt meinem Blick. Sie legt den Bogen zur Seite.
»Was jetzt?«, fragt sie.
»Schubert? Die Ramones?«, frage ich zurück, obwohl ich genau weiß, dass sie normalerweise keine Musikwünsche erfüllt. Doch ich kann mir nichts anderes vorstellen, als weiterzuspielen, denn zum ersten Mal seit Langem ist da nichts, was ich lieber täte. Und ich habe Angst vor dem, was kommt, wenn die Musik vorbei ist.
Mia deutet auf die Digitaluhr, die auf dem Fensterbrett bedrohlich blinkt. »Ich glaub nicht, dass du deinen Flieger noch kriegst.«
Ich zucke die Achseln. Macht ja nichts, heute Abend gehen noch mindestens zehn weitere Flüge nach London. »Und du, schaffst du deinen?«
»Ich will meinen gar nicht kriegen«, sagt sie schüchtern. »Ich hab noch einen freien Tag, bevor ich mit den Auftritten beginne. Ich kann auch morgen noch fliegen.«
Plötzlich stelle ich mir Aldous vor, wie er in der Virgin-Departure-Lounge auf und ab geht und sich fragt, wo zum Teufel ich bleibe, während er auf meinem Handy anruft, das immer noch auf dem Nachttisch im Hotel liegt. Ich denke an Bryn, die dort in L. A. ist und keine Ahnung hat, dass hier in New York soeben ein Erdbeben
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