Luc - Fesseln der Vergangenheit
Zähne fest zusammengebissen breitete sie eine dünne Decke über ihm aus und atmete tief durch. Das war nicht mehr als eine rein körperliche Anziehung.
Dieses Mal hörte sie Kalils Ankunft rechtzeitig, drehte sich aber zunächst nicht um, sondern wartete, bis sie sicher war, dass sie ihre Miene unter Kontrolle hatte.
»Jetzt können wir nur noch warten, dass das Fieber sinkt.«
»Ich habe eine Lampe und deinen Schlafsack aus dem Wagen mitgebracht. Vermutlich willst du hier schlafen, oder?«
»Sofern ihr damit einverstanden seid, würde ich das tatsächlich gerne tun.«
»Tu, was du für richtig hältst.« Ein unausgesprochenes ›aber‹ stand ihm förmlich auf die Stirn geschrieben. Während Kalil die Lampe anschloss, die wenig später ausreichend Licht spendete, wartete sie darauf, dass er weitersprach. Als er schwieg, legte sie ihm eine Hand auf den Arm. »Sag es bitte ehrlich, wenn ich euch damit Schwierigkeiten mache. Ich möchte euch oder eure Religion nicht beleidigen, indem ich bei ihm bleibe.«
»Du weißt ja, dass wir mit dem Diesel sparsam umgehen müssen, also bitte möglichst die Lampe nur nutzen, wenn du sie wirklich brauchst.«
Als ob sie das erste Mal in seinem Dorf zu Gast wäre und nicht wusste, wie wertvoll Wasser und Strom wären. »Kalil!«
Mit einem abgrundtiefen Seufzer verzichtete er auf weitere unsinnige Belehrungen. »Warzai war schon immer ein Mistkerl und ich habe immer gehofft, dass die ISAF -Truppen ihn erwischen, aber dieses Mal hat er es wirklich übertrieben. Mir gefällt es schon nicht, dass er versucht, Hamid in die Enge zu treiben, indem er ihm seinen Gefangenen aufzwingt. Aber noch viel weniger gefällt es mir, dass du hineingezogen worden bist. Egal, wie hart du dich gibst, du bist mit Leib und Seele Ärztin und rettest Leben. Was wir von dir verlangen, ist unfair. Aber ich weiß einfach keinen Ausweg. Noch nicht, ich arbeite dran.«
Sie verstärkte den Griff um seinen Arm. »Hör auf, Kalil. Ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe, und hätte die Behandlung ablehnen können. Ich will nicht, dass du etwas Unüberlegtes tust.«
»Im Moment beschränke ich mich darauf, Warzais Aufenthalt in Pakistan mit ein paar gezielten Mails zu verlängern. Dabei kann ich mir höchstens einen Finger verstauchen.« Er löste sich aus ihrem Griff und legte ihr eine Hand an die Wange. »Ich habe dich nie gefragt, wovor du wegläufst, aber ich habe das Gefühl, dass dieser Mann alles in Frage stellen wird, was du bist und was du tust.«
»Wie könnte er? Und ich heiße Jasmin.« Kalil ignorierte auf seine typische Art ihren flapsigen Ausweichversuch und sah sie stumm an. Spontan umarmte sie ihn. »Mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder. Ich bekomme das hin.«
Trotz seiner schlaksigen Gestalt war er kräftig und drückte sie fest an sich. »Ich hoffe es, Jamila. Der Name passt zu dir, also werde ich ihn auch benutzen. Ich wünschte, ich wäre drauf gekommen und du wärst nicht meine Schwester. Und ich wäre zehn Jahre älter.«
Die übertriebene Klage brachte sie zum Schmunzeln. Als sie sich kennengelernt hatten, war er noch ein Teenager gewesen und seine anfängliche Schwärmerei hatte sich in Freundschaft und brüderliche Liebe verwandelt. Durch seine Internetaktivitäten war Kalil noch westlicher geprägt als sein Bruder, und sie genossen es beide, sich gegenseitig hemmungslos aufzuziehen, wenn sie unter sich waren. Aber dieses Mal konnte Jasmin den lockeren Ton nicht beibehalten und verbarg ihren Kopf an seiner Schulter. »Und ich wünschte, wir würden in Kalifornien leben und du wärst Arzt oder ein vom FBI gesuchter Hacker.«
»Das FBI sucht mich doch schon, das wäre kein großer Unterschied.« Die Zärtlichkeit, mit der er ihr über den Kopf streichelte, war die eines großen Bruders und nicht die eines Zwanzigjährigen. »Im nächsten Leben, Jamila. Da wird alles anders und besser, auch wenn mich keine achtzig Jungfrauen ins Paradies begleiten.«
Entschieden riss sie sich zusammen und boxte ihm spielerisch in die Rippen. »Siebzig Jungfrauen und pass bloß auf, dass Warzai niemals einen deiner blasphemischen Sprüche mitbekommt.«
»Und du lass meinen Bruder nicht länger warten. Er mag zwar ein von den ISAF -Truppen gefürchteter Anführer der Taliban sein, scheitert aber gerade daran, seinen Sohn noch länger davon abzuhalten, hier reinzustürmen.«
Es war weit nach Mitternacht, als Jasmin wieder vor dem Haus stand. Der Mond hing als silberne Scheibe über den
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