Luc - Fesseln der Vergangenheit
er schreckte instinktiv davor zurück, das Mädchen zu verletzen. Die Zähne fest zusammengebissen tat er, was getan werden musste, und bekam es im zweiten Versuch hin. Er befestigte die Beutel an dem Ständer und kontrollierte die Schläuche. Seine Frage blieb ihm im Hals stecken, als das Mädchen flatternd die Augen aufschlug. »Himmel, Jasmin, sie ist wach.«
»Ich weiß. Keine Mittel für eine Anästhesie, die örtliche Betäubung muss reichen. Lenke sie ab und behalte Puls und Atmung im Auge. Pass auf, wir können sie schlagartig verlieren und müssen sofort gegensteuern.«
Ihre Anweisungen kamen ruhig und präzise. Der Blick des Mädchens irrte umher, dann sah sie ihn direkt an und riss die Augen weit auf, als ob sie sich vor ihm fürchtete. »Keine Angst, ich helfe Jasmin, dich gesund zu machen.«
»Dann tust du mir nicht so weh wie der andere?«
Er schluckte den Fluch hinunter, der ihm auf der Zunge lag, und zwang sich zu einem Lächeln. »Niemals. Es ist wie im Märchen: Es gibt Böse und Gute und ich gehöre zu den Guten. Du musst nur ganz ruhig liegen bleiben. Tut dir etwas weh?«
»Nein, es ist wie Fliegen. Komme ich denn jetzt in den Himmel?«
Die Frage verwunderte Luc, dann sah er das kleine goldene Kreuz an ihrem Hals. »Nein, Himmel und Paradies müssen noch auf dich warten. Wie heißt du?«
Ihr Mund öffnete sich, aber dann verdrehte sie die Augen und sackte in sich zusammen. Der Puls war schwach fühlbar, aber er konnte keine Atmung feststellen. Der Brustkorb hob sich nicht. Vergeblich versuchte er sich daran zu erinnern, was es bei Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Kindern zu beachten galt, aber ihm fiel nur der Satz ein, den Timothy, ihr Sanitäter im Team, ihnen wieder und wieder eingehämmert hatte: »Falsch machen könnt ihr nichts. Egal, was ihr macht, es kann nur besser werden. Wenn ihr nichts tut, dann trete ich euch allerdings in den Hintern.«
Zunächst zögernd, dann sicherer werdend, hielt er ihr die Nase zu und blies ihr vorsichtig seinen Atem in die Lungen. Nach vier, fünf Versuchen hörte er auf und ballte die Faust. Die Kleine atmete wieder selbständig.
»Gut gemacht. Beobachte sie weiter. Ich habe es gleich.« Wie hatte Jasmin ihn beobachten können? Vielleicht hatten Ärzte standardmäßig auch hinten Augen.
Luc sah aus den Augenwinkeln, dass sich ihnen jemand näherte. Alima blieb neben ihm stehen. »Was ist eigentlich passiert? Sieht aus wie eine Schusswunde«, fragte er, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen.
Alima seufzte tief. »Ist es auch. Sie hat die Pistole ihres Vaters mit rausgenommen. Als Schutz, falls noch mal ein böser Mann kommt. Irgendwie hat sich ein Schuss gelöst und sie getroffen.«
Er hatte bereits geahnt, dass es sich um das Mädchen handelte, dass von dem Franzosen verletzt worden war, als er ihren ängstlichen Blick gesehen hatte, hätte aber auf eine Bestätigung gut verzichten können.
Die Minuten zogen sich endlos dahin, bis Jasmin endlich aufstand und sich wie eine Katze streckte. »Das war’s. Ich rede mit der Mutter, damit sie weiß, worauf sie achten muss. Danke, Luc, ohne deine Hilfe hätte es schlecht ausgesehen.«
Tiefe Zufriedenheit brachte Jasmin zum Strahlen und machte ihn sprachlos. Er bemühte sich, das Bild in seinem Gedächtnis zu verankern, um sich später an diesen Augenblick zu erinnern.
»Ist die Kleine außer Lebensgefahr?« Erstaunt stellte er fest, wie rau seine Stimme klang.
»Ich denke schon. Die Blutung ist gestoppt, eine Infektion so gut wie ausgeschlossen. Mehr können wir nicht tun und sie hat schon bewiesen, dass sie eine Kämpferin ist.«
»Kein Kind sollte … « Er verstummte abrupt. Es brachte nichts, über die Ungerechtigkeiten in der Welt zu philosophieren, ändern konnten sie sowieso kaum etwas.
Jasmin verstand ihn auch so und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Dank dir hat sie eine weitere Chance. Mehr können wir nicht tun. Geh schon mal raus, ich komme gleich nach und kümmere mich um ein verspätetes Frühstück. Das hast du dir wirklich verdient. Geht’s dir gut?«
»Ja, alles in Ordnung.«
Nach einem letzten Blick auf das schlafende Kind verließ Luc das Haus. Den Kopf in den Nacken gelegt genoss er das natürliche Licht der Sonne nach der grellen Helligkeit der Scheinwerfer. Arzt, oder noch schlimmer Kinderarzt, wäre der letzte Beruf für ihn, die Angst um seine kleinen Patienten würde ihn umbringen.
Vier Männer hatten sich zu einer Gruppe auf der gegenüberliegenden Straßenseite
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