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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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zwar nicht immer, aber wenigstens kann ich es sagen. Doch bei Leuten, deren Meinung ich schätze – nun ja, da ist es eben was anderes. Da ist es schwierig. Wenn jemand, den du achtest, bewunderst oder liebst, schlecht über dich denkt, dann
reicht
es einfach nicht, dass du du selbst bist. Denn wenn du zwar du selbst bist, aber die anderen denken schlecht über dich, dann sind nun mal entweder sie im Unrecht oder du.
    So wie ich es sah, musste der Junge schlecht über mich denken, aber er hatte Unrecht. Oder zumindest täuschte er sich. Es war nicht seine Schuld, dass er Unrecht hatte. Wenn,dann war es meine. Doch er hatte trotzdem Unrecht. Das war eigentlich ganz klar und deutlich. Was ich nicht verstand, war, wieso es mir etwas ausmachte. Ich wusste nichts über ihn. Warum machte ich mir dann Gedanken, was er über mich dachte? Warum war mir seine Meinung so wichtig? Schätzte ich ihn? Wie denn? Bewunderte ich ihn? Wofür? Ich liebte ihn nicht . . . ich
kannte
ihn ja nicht mal – warum also machte ich mir Sorgen, was er wohl über mich dachte?
    Auf dem ganzen Weg nach Hause dachte ich darüber nach, aber ich fand keine Antwort. Mein Kopf schmerzte. Mein Mund war trocken. Es war zu heiß zum Denken. Mit der Zeit gab ich es einfach auf.
     
    Nachdem ich mich kalt geduscht, mich umgezogen und ein paar Tassen starken Kaffee getrunken hatte, fühlte ich mich immer noch lausig. Es war erst gerade Abend geworden, ungefähr acht, aber ich hatte das Gefühl, als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen. Mein Kopf war benebelt, ich fühlte mich völlig zerschlagen. Trotzdem wollte ich nicht ins Bett. Mit jemandem reden wollte ich aber auch nicht. Und die Vorstellung, das Samstagabendprogramm im Fernsehen anzuschauen, war viel zu deprimierend. Was ich wollte, war natürlich am Strand spazieren gehen. Ich wusste, dass das der einzige Ort war, wo ich den ganzen Müll aus meinem Kopf kriegen konnte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich es schon wieder schaffte. Die Erinnerung an Jamie Tait war noch zu frisch. Das Problem war bloß, je länger ich den Strand mied, desto beschmutzter würde er mir erscheinen, und je beschmutzter er mir erschien, desto schwerer würde es werden,die Erinnerung zu überwinden. Das hatte der Strand nicht verdient und ich auch nicht.
    Aber es war schwer. Besonders nach dem, was am Nachmittag passiert war. Zu schwer. Und als ich in der Küche saß und aus dem Fenster guckte, wusste ich, dass ich es an diesem Abend nicht schaffen würde.
     
    Ich saß noch im Halbschlaf da, als Dominic zurückkam.
    »Hallo, Fremde«, sagte er, als er gut gelaunt in die Küche kam. »Warum sitzen Sie hier im Dunkeln?«
    »Nur so«, sagte ich und rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Wie viel Uhr ist es?«
    »Ich weiß nicht, halb zwölf, zwölf – wo ist Dad?«
    »Arbeitet.«
    »Das ist ja mal was Neues.« Er ging zum Kühlschrank und holte sich eine Dose Bier, öffnete sie und setzte sich zu mir an den Tisch. »Warst du aus?«, fragte er und zündete sich eine Zigarette an.
    »Nein, nicht wirklich.«
    »Ich dachte, du wolltest dich mit Bill treffen.«
    »Wir sind nur ein bisschen in der Stadt gewesen . . .«
    Er grinste. »Einen draufmachen?«
    »So was Ähnliches.«
    Ich beobachtete ihn, während er aus der Dose trank. Ich hatte ihn noch gar nicht richtig angeschaut, seit er zurück war. Es hatte ja keine Gelegenheit gegeben, mal richtig hinzugucken. Jetzt, im Halbdunkel der mitternächtlichen Küche, konnte ich erkennen, dass er jemandem ähnelte, der einmal mein Bruder gewesen war. Dasselbe auf unspektakuläreWeise ansprechende Gesicht, derselbe fein geschnittene Mund, dieselben schön geformten Augen, dieselbe spitzbübische Energie . . . nur dass jetzt alles völlig erstarrt und leer wirkte, die Haut farblos und platt, wie unter einer Schutzfolie versiegelt.
    Er trank weiter Bier und schnippte Asche in den Aschenbecher. »Weißt du, woran mich das hier erinnert?«
    »Woran denn?«
    »An diese Szene in
Der Fänger im Roggen
, wo Holden zurück in das Haus seiner Eltern humpelt, um seine kleine Schwester zu sehen – wie hieß sie noch?«
    »Phoebe.«
    »Ja, richtig, Phoebe. Er humpelt nach Hause und weckt sie mitten in der Nacht   –«
    »Sie ist bloß ein kleines Kind.«
    »Ich weiß.«
    »Etwa acht oder so.«
    »Ja, ich
weiß
–«
    »Ich bin aber fünfzehn, Dominic.«
    »Ich weiß, wie alt du bist. Ich wollte nicht sagen, du bist
wie
– wie heißt sie noch?«
    »Phoebe.«
    »Phoebe, genau. Ich wollte nicht

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