Lucas
nicht, aber–«
»Du musst nichts erklären«, sagte er. »Ich bin auch schon mal in so einer Situation gewesen.«
»Ja?«
Er nickte. »Es ist nicht immer leicht, das Schlechte zu meiden. Manchmal hast du gar keine Wahl. Du musst einfach tun, was du für das Beste hältst.« Er trat vom Ufer zurück und zog eine Wasserflasche aus seiner Tasche. Es war eine von diesen Militärflaschen – grünes Metall mit Trinkkappe und Lederband zum Umhängen. Sie wirkte alt und oft gebraucht. Er goss Wasser in die Kappe und stellte sie auf den Boden. Deefer schleckte das Wasser auf. Lucas reichte mir die Flasche. »Ist aber leider ein bisschen warm.«
Als ich die Flasche aus seiner Hand nahm, erhaschte ich einen schwachen Duft nach Leder von dem Armband, das er am Handgelenk trug. Da war aber auch noch ein anderer Geruch, kaum wahrnehmbar, nach frischer Erde und Fisch. Nicht streng wie nach totem Fisch, sondern der sanfte, silbrige Duft des Meers, der Geruch des lebendigen Tiers.
Ich trank aus der Wasserflasche.
Lucas setzte sich auf einen flachen Stein und drehte sich eine Zigarette. Den Tabak bewahrte er in einem kleinen Lederbeutel auf. Ich sah zu, wie er den Tabak auf dem Zigarettenpapier verteilte und es zu einem Röhrchen zusammenrollte, das er sich in den Mund steckte und mit einem abgenutzten alten Messingfeuerzeug anzündete. Eine Brise riss den Rauch fort.
Er saß ziemlich dicht neben mir. Dicht genug zum Reden,aber nicht
zu
dicht . . . und ich fragte mich, ob er das mit Absicht getan hatte. Damit mich der Rauch nicht störte. Oder weil es so einfach richtig war.
Deefer schlappte herüber und legte sich wieder neben ihn. Lucas beachtete ihn nicht besonders, aber er wirkte auch nicht abweisend. Es war, als würden die beiden sich seit Jahren kennen und hätten es nicht mehr nötig, sich ihre Nähe durch Berührungen zu zeigen.
Es war ganz erstaunlich. Ehrlich.
Ich drückte die Kappe wieder auf die Flasche und stellte sie in den Sand.
Lucas sah mich nachdenklich an. »Das Mädchen in dem weißen Kleid«, sagte er. »Die mit den kalten Augen . . .«
»Angel«, sagte ich. »Sie heißt Angel Dean.«
Er nickte. »Ist sie die Schwester von diesem Geschwindigkeits-Freak?«
»Geschwindigkeits-Freak? Du meinst Robbie?«
»Den Steinewerfer.«
»Ja, Angel ist seine Schwester.« Ich war verblüfft. »Was weißt du über Robbie?«
»Um Robbie musst du dir keine Sorgen machen«, sagte er zurückhaltend. »Eher um Angel.«
Während er sprach, hatte ich ein eigenartiges Gefühl hinten in der Kehle, einen kalten Geschmack nach Kupfer, so wie von alten Münzen. Er erinnerte mich an die Zeit, als ich noch klein war. Dad hatte ein Glas mit alten Pennys auf seinem Schreibtisch stehen, diesen großen von früher. Aus irgendeinem Grund fand ich sie unwiderstehlich. Jedes Mal steckte ich meine Hand ins Glas, nahm ein paar heraus und lutschte anihnen. Ich weiß nicht, warum. Kinder machen eben so was. Sie stecken Sachen in den Mund. Dad sagte mir immer, ich sollte das lassen –
Nimm sie aus dem Mund, Cait, sie sind schmutzig, du weißt nicht, wo sie schon überall waren
. . .
Daran erinnerte mich der Geschmack, den ich jetzt in der Kehle hatte – an schmutzige alte Pennys.
Ich schluckte, aber der Geschmack blieb.
Eher um Angel?
Ich sah Lucas an. »Wie meinst du das?«
Er antwortete nicht sofort. Erst nahm er einen letzten Zug von der Zigarette, dann drückte er sie vorsichtig aus und vergrub sie im Sand. Schließlich rieb er sich den Sand von den Händen und schaute auf. »Ist sie krank, weißt du das?«
»Krank? Inwiefern krank?«
»Stimmt mit ihr irgendwas nicht?«
Ich lachte. »Körperlich ist jedenfalls alles dran. Wieso?«
Er hob einen kleinen Stein auf und warf ihn hin und her, von einer Hand in die andere. »Ich dachte, ich hätte etwas bemerkt, als sie auf der Brücke stand.«
»Was denn?«
»Nichts.«
»Sag’s mir«, erwiderte ich. »Sag mir, was du gesehen hast.«
Er senkte den Blick. »Genau das – nichts. Nichts habe ich gesehen.« Er schaute auf. »Sie hatte kein Gesicht.«
Ich glaube nicht, dass er versuchte mir Angst zu machen oder zu imponieren oder auch nur einen Schreck einzujagen . . . Ich glaube, er versuchte überhaupt nichts, außer mir zu sagen, was er meinte gesehen zu haben. Es war ein Gefühl. Erhatte etwas empfunden und mit den Jahren hatte er gelernt, seine Empfindungen nicht zu verleugnen, egal ob er sie verstand oder nicht. Ich habe mir seit dem Tag, als er es aussprach,
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