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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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Dünen und versuchten Deefer nicht in die Quere zu kommen, und als der Pfad die Dünen unter sich ließ, sah ich, wie sich auf den Bojen in derBucht Kormorane niederließen und ihre Flügel in der Sonne ausbreiteten.
    Es war herrlich.
    Ich konnte spüren, wie sich mein Kopf leerte.
    Ich konnte spüren, wie die ungewollten Gedanken und Ängste forttrieben.
    Dann sah ich ihn.
    Er stand barfuß an einem Gezeitentümpel und hielt einen Krebs in der einen Hand, ein Stück Schnur in der anderen. Die Schnur war an einem Ende mit einem kleinen Fleischbrocken verbunden. Genau in dem Moment, als ich um eine Biegung kam, die der schlammige Pfad bildete, warf der Junge die vorn beschwerte Schnur mit einem eleganten Schwung aus und versuchte das Fleisch genau in der Mitte des Tümpels zu platzieren.
    Ich blieb stehen und starrte hinüber.
    Auch Deefer blieb stehen und starrte hinüber.
    Die Sonne stand direkt hinter ihm und bildete in einem grellweißen Lichthof seine Silhouette ab. Während ich schaute, spielte mein Verstand verrückt: Für einen winzigen Augenblick war ich ein fünfjähriges Mädchen, das auf dem Knie meines Vaters saß und die Seiten eines altmodischen Bilderbuchs anguckte – Bilder von Engeln.
    Der Krabbenköder fiel mit einem sanften Plopp in den Tümpel und der Junge drehte sich mit einer solchen Ruhe in meine Richtung, dass sich die Luft verlangsamte. Eine leichte Bewegung des Kopfes und er verdeckte plötzlich die Sonne. Zusammen mit seiner Silhouette verschwand meine Erinnerung. Er war ein Junge aus Fleisch und Blut.
    Und ich war ein fünfzehnjähriges Mädchen mit dämlichem Gesichtsausdruck.
    »Hallo«, sagte er und lächelte.
    Ohne den Blick von mir abzuwenden ließ er den Krebs in seine Tasche gleiten, überprüfte seine Angelschnur und warf sie wieder aus. Seine Kleidung, die vom Wetter verblichen, aber sauber wirkte, hing ihm lose am Körper. Es waren dieselben Sachen, die er auch an dem Tag getragen hatte, als ich ihn auf dem Damm zum ersten Mal sah: grüne Hose aus festem Leinenstoff, graugrünes T-Shirt , die grüne Armyjacke um die Taille gebunden. Boots und Leinentasche lagen zu seinen Füßen. Die Sonne hatte ihm den zerzausten Wuschelkopf gebleicht und die Spitzen zu einem feinen, golden schimmernden Gelb aufgehellt.
    »Du bist Cait, nicht wahr?«, sagte er sanft.
    Einen schrecklichen Moment lang dachte ich, ich hätte die Fähigkeit zu sprechen verloren. Alles, was ich zustande brachte, war mit offenem Mund dazustehen wie ein Idiot. Gott, wie peinlich, dachte ich. Der Moment dauerte wohl höchstens ein paar Sekunden, aber es kam mir
viel
länger vor. Schließlich gelang es mir wieder zu atmen.
    »Woher weißt du meinen Namen?«, fragte ich.
    Der Satz klang völlig falsch. Was ich hatte sagen wollen, war: »Woher weißt du meinen
Namen?
«, leicht dahin, sorglos und neugierig. Doch was ich wirklich sagte, war: »Woher weißt
du
meinen Namen?«, als würde ich ihn eines Verbrechens bezichtigen.
    Aber er schien es nicht zu merken.
    »Joe hat ihn mir gesagt«, antwortete er bloß.
    Ein wenig überrascht registrierte ich plötzlich, dass ich auf ihn zuging. Es schien ganz natürlich. Während ich näher trat, ließ mich sein Blick nicht los. Dieser Blick war überraschend offen, fast naiv in seiner Aufrichtigkeit. Wie der eines Kindes.
    Ein paar Meter vor ihm blieb ich stehen. »Joe Rampton?«
    Er nickte. »Ich habe neulich ein bisschen für ihn gearbeitet. Er hat auf dich gezeigt, als du an der Bucht standest.« In seinem Gesicht erschien ein Lächeln. »›Siehst du das Mädchen da drüben?‹, sagte er. ›Das ist Cait McCann. Ihr Vater schreibt Bücher.‹«
    Ich lachte.
    »Ich hoffe, es stört dich nicht«, sagte er.
    »Nein«, antwortete ich, »es stört mich nicht.«
    Dicht vor ihm stehend sah ich, dass seine Zähne so weiß wie Milch waren. Ich stellte auch fest, dass seine Haut leicht gebräunt war. Und ich entdeckte kleine Schweißperlen, die auf seiner Stirn glänzten.
    »Ich habe die Bücher deines Vaters gelesen«, sagte er. »Muss ein interessanter Mann sein.«
    »Könnte man so sagen, ja.«
    Er schaute weg, zog leicht an seiner Krebsschnur, dann schaute er wieder zu mir. »Ich bin übrigens Lucas«, sagte er. Ich lächelte. »Schön, dich kennen zu lernen, Lucas.«
    Er nickte und sah seitlich an mir herunter. Ich wusste im Moment nicht, wonach er schaute. Dann blickte ich auch nach unten und sah Deefer. Ich hatte ihn völlig vergessen. Normalerweise gibt es zwei Möglichkeiten,

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