Lucas
Ahnung, wo er herkam, was er hier machte oder wie alt er war. Ich wusste nicht, was er in seiner Leinentasche hatte (außer Krebsen und einer Wasserflasche). Ich wusste nicht, wo er zur Schule gegangen war, falls er das überhaupt getan hatte. Ich wusste nichts über seine Eltern. Ich wusste nicht, ob er Brüder oder Schwestern hatte. Ich wusste nicht, was er mochte und was er nicht mochte oder was er von Mädchen hielt, die ihre Haare in kleinen Puscheln trugen . . .
Aber es schien ohne Bedeutung.
Es schien vollkommen ohne Bedeutung.
Es gibt alle möglichen Gefühle. Zum Beispiel das Gefühl, wenn du dein Zuhause betrittst und dich so gut fühlst, dass du glaubst, nichts könnte dich unterkriegen, doch dann streckt dein Dad den Kopf aus der Tür seines Arbeitszimmers und sagt: »Simon hat auf dich gewartet.«
Verdammt. Den hatte ich ganz vergessen.
Sechs Uhr, hatte er gesagt.
»Wie spät ist es jetzt?«, keuchte ich.
Dad zuckte die Schultern. »Sieben, halb acht.«
»
Was?
« Ich wollte es nicht glauben. Über drei Stunden war ich unterwegs gewesen. »Ist er gegangen?«
Dad nickte. »Vor ungefähr zehn Minuten. Ich hab noch gesagt, allzu lange könne es bestimmt nicht mehr dauern, aber er hatte schon eine Stunde gewartet. Wo hast du
gesteckt
?«
Ich schüttelte den Kopf. »War nur mit Deefer spazieren . . . ich muss das Zeitgefühl verloren haben.«
Dad grinste. »Vielleicht solltest du dir eine Uhr zulegen?«
»Das ist nicht
lustig
.«
»Für Simon bestimmt nicht, da hast du Recht.«
Ich seufzte. »Wie ging es ihm? War er wütend?«
»Na ja, das ist schwer zu sagen. Simon ist ja nicht gerade der extrovertierteste Mensch, den man so kennt.«
»Hat er irgendwas gesagt?«
Dad zuckte die Schultern. »Nicht wirklich . . .«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Er ist nicht wegen mir hergekommen.«
»Wieso hast du nicht mit ihm
geredet
? Er ist schüchtern. Du hättest ihm wenigstens das Gefühl geben können, dass er willkommen ist.«
»
Hab
ich ja. Ich habe ihm eine Tasse Tee gemacht, gefragt, wie es ihm geht . . . Moment mal, wieso entschuldige
ich
mich eigentlich?
Du
hast ihn schließlich sitzen lassen, nicht ich.«
»Ich hab ihn nicht
sitzen
lassen . . . Es war ja kein Date oder so . . . Egal, ich hab nur vergessen, wie spät es war –«
Er lächelte. »Ich sag’s ja, besorg dir mal eine Uhr.«
»Ja, ja . . .«
Später rief ich Simon an, aber seine Mutter meinte, er sei nicht zu Hause. Sie behauptete, er sei einen Freund besuchen gegangen. Freund? Ich überlegte. So ein Schwachsinn.
Ich fühlte mich ziemlich mies, vor allem am Anfang. Ich stellte mir vor, wie Simon sich gefühlt haben musste, als er da saß und auf mich wartete – verlegen, unbehaglich, gehemmt, gedemütigt . . .
Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, überlegte ich, ich hätte mich hundeelend gefühlt.
Aber das Eigenartige war, dass ich mich, obwohl ich mich wirklich mies fühlte, doch nicht ganz und gar mies fühlte. Anders gesagt, ich machte mir keine wilden Vorwürfe deswegen.
Am Abend ging ich jedenfalls mit einem Lächeln auf dem Gesicht ins Bett.
Vielleicht war das ja falsch.
Ich weiß es nicht.
Es gibt alle möglichen Gefühle: Liebe, Hass, Bitterkeit, Freude, Traurigkeit, Erregung, Verwirrung, Angst, Wut, Verlangen, Schuld, Scham, Reue, Abneigung.
Und kein einziges lässt sich kontrollieren.
Fünf
I ch habe nie richtig verstanden, was an dem Tag der Regatta passiert ist. Es war eine so seltsame Mischung von Ereignissen, dass ich mich an das Ganze eher wie an einen schlechten Traum erinnere, einen Traum, der in allerkürzester Zeit von Freude in Verzweiflung und dann wieder in Freude umschlägt. Ich erinnere mich genau an das, was geschehen ist, manchmal vielleicht zu genau. Ich erinnere mich an jedes Einzelereignis, sogar daran, was ich in dem Moment empfand und was die Dinge damals für mich bedeuteten. Aber auch wenn ich inzwischen eine Menge begriffen habe: Was wirklich ablief, verstehe ich trotzdem nicht.
Und ich glaube auch nicht, dass ich es je verstehen werde.
Ich habe das Gefühl, an diesem Tag fing alles an.
Der Anfang vom Ende.
Morgens um halb elf brachen wir auf. Ich, Dad und Deefer. Obwohl sich der Himmel bereits zuzog, war es noch so warm, dass man in T-Shirt und Shorts am Strand laufen konnte. Für alle Fälle steckten aber Sachen zum Umziehen in Dads Rucksack. Außerdem hatten wir einen Stapel belegteBrote und Kuchen, eine Flasche Cola, Wasser für Deefer, ein
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