Lucas
Schnur und ich sah, wie sich der Köder langsam am Stein entlangschob. Lucas hielt ihn eine Sekunde lang still, dann zog er von neuem leicht an der Schnur.Irgendetwas bewegte sich unter dem Stein, eine schnelle Sensenbewegung, die eine kleine Schlammwolke aufwirbelte, danach beruhigte sich alles wieder.
Lucas lachte und holte die Angelschnur ein. »Der da ist klug. Er erinnert sich, was seinem Freund passiert ist.«
Während er sich auf den Tümpel konzentrierte, schien die Farbe seiner Augen wegen der Lichtreflexe zu schwanken. Fasziniert sah ich zu, wie sie sich von flachsgleichem Blassblau in einen fast durchsichtigen Ton verlor, der so zart wie das Blau eines einzelnen Wassertropfens wirkte. Dann, als er die Angelschnur abermals auswarf und das Sonnenlicht auf der Oberfläche des Tümpels spielte, verstärkte sich die Farbe der Augen wieder und verwandelte sich aus der vorübergehenden Eintrübung in ein beeindruckend leuchtendes Saphirblau zurück.
Er wiederholte den Ablauf, zog an der Schnur, ließ sie ruhen, dann ein leichtes Ziehen, ein Ruck, wieder ruhen lassen . . .
Es war kühl am Rand des Tümpels. Wir standen an einer niedrigen Stelle, auf die die mit Ginster und Strandhafer dicht bewachsenen Dünen ihre Schatten warfen. Obwohl die Sonne noch hoch stand, gab der Boden um uns herum schon ein Gefühl von Frische und Feuchte ab. Die Ginsterblüten würzten die Luft mit einem leichten Geruch nach Kokosnuss. Ich konnte den Tang im Tümpel riechen, die Erdigkeit des Schlamms, den Sand, das Salz in der Luft. Vom Strand hörte ich den klagenden Schrei eines Brachvogels.
Lucas angelte noch immer.
»Was für Krebse suchst du?«, fragte ich ihn.
»Essbare.«
»Diese langweiligen roten?«
Er nickte.
»Isst du die?«, fragte ich.
Er sah mich mit einem amüsierten Lächeln an.
»Dumme Frage«, sagte ich verlegen.
Er schwieg eine Weile und zog die Schnur um den Stein. Dann sagte er: »Man muss aufpassen, nicht den Kopf oder die grünen Teile zu erwischen. Aber sonst schmecken sie sehr gut. Hast du schon mal einen probiert?«
Ich zuckte die Schultern. »Nur im Restaurant.«
Er nickte.
Ich fragte: »Wie kochst du sie?«
»Im Topf. Über einem Feuer.«
»Ach so, verstehe.« Ich schaute auf die Leinentasche zu seinen Füßen, stellte mir den Krebs darin vor und fragte mich, ob er noch lebte und ob er . . .
»In kochendem Wasser«, sagte er, meine Gedanken lesend.
Ich schauderte leicht. »Ist das nicht grausam?«
Er dachte einen Moment nach, dann nickte er einfach. »Wahrscheinlich schon.«
Plötzlich dachte ich an den Samstagnachmittag am Damm . . . seinen Blick, als er vor Robbie Dean floh und über einen schmalen Wasserlauf sprang, ehe er im Gewirr der hohen Reethalme verschwand . . . das Haar hinten am Kopf, das blutverklebt war . . . und den Ausdruck in seinem Gesicht, als er über die Schulter zurückschaute und uns ansah, mich ansah . . . der emotionslose Blick eines Tiers, ein Blick des reinen Instinkts – den gleichen Ausdruck hatte er auch jetzt.
Grausamkeit? Grausamkeit gehörte zum Leben.
Erinnerte er sich an mich? Erkannte er mich wieder?
Ohne nachzudenken sah ich nach seinem Hinterkopf. Es war kein Zeichen einer Verletzung zu sehen.
Ich schaute weg, weil ich mich plötzlich schämte. Ich kam mir vor wie ein Eindringling. Ein Lügner. Ein Betrüger.
Lucas sprach ganz ruhig. »Das hat schlimmer ausgesehen, als es war.«
»Wie bitte?«
Er berührte seinen Hinterkopf. »Es war nur eine ganz kleine Platzwunde. Als ich das Blut abgewaschen hatte, war nichts mehr zu sehen.« Er lächelte. »Es liegt am Blond – das bringt das Blut deutlicher heraus.«
Ich schaute ihn an. Es lag weder Ärger noch Spott in seinen Augen, sondern nur Spaß.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll . . .«, stammelte ich. »Ich fühl mich so –«
»Du hast doch gar nichts getan«, sagte er.
»Ich weiß, aber –«
»Du hast sogar noch versucht ihn aufzuhalten.«
»Ja, und das hat so richtig viel genützt.«
»Aber du hast es versucht.« Er begann die Schnur aufzuwickeln. »Ich weiß das zu schätzen. Danke.« Sie schwirrte um seine Finger und die Angel glitt mit einem leicht zischenden Ton aus dem Tümpel. Er entfernte den Köder und warf ihn zurück ins Wasser, dann knotete er die Schnur zusammen und schob sie sich in die Tasche.
Er sah mich an. »Diese Leute, mit denen du zusammen warst . . .«
Ich schüttelte den Kopf vor Verlegenheit. »Es war ein Versehen . . . na ja,
Versehen
eigentlich
Weitere Kostenlose Bücher