Lucas
Duft von Holzrauch in einer leichten Brise herüberwehte, hätte ich nahezu alles getan, den Moment für immer einzufrieren. Es war so ruhig und friedlich, so einfach, so gelassen.
Ich drehte mich um und sah, wie mich Lucas anschaute. Seine Augen leuchteten in einer wilden, unverbrauchten Klarheit, die mir den Atem nahm.
»Wo wirst du hingehen?«, fragte ich ihn.
»Ich weiß nicht . . . an der Südküste entlang, wahrscheinlich. Es gibt ein paar ganz schöne Orte in Dorset und Devon. Die Moore dort wollte ich mir schon immer mal ansehen.« Er lächelte. »Ich schick dir eine Postkarte.«
Wir standen noch eine Weile da und keiner wusste, was ersagen sollte. Ein Teil von mir hätte gern erfahren, was er dachte, aber ein anderer Teil – der schlauere – war froh, dass ich es nicht wusste. Manchmal ist es das Beste, auf seine Vorstellung zu vertrauen. Fakten können enttäuschen, aber dein Kopf wird immer auf dich aufpassen.
»Ich geh dann mal besser«, sagte ich schließlich. »Dad wird schon auf mich warten.«
»Was wirst du ihm erzählen?«, fragte Lucas.
»Worüber?«
»Über mich.«
Seine Ehrlichkeit schockierte mich einen Moment. Es war die Art von Frage, die jeder stellen
möchte
, aber selten stellt. »Ich werde ihm einfach die Wahrheit sagen«, erklärte ich. Lucas schaute mich an und nickte. »Eines Tages wirst du das.«
Ich war mir nicht ganz sicher, was er meinte, falls er überhaupt etwas meinte . . . aber ich bohrte nicht nach.
Ich ging zurück in die Hütte und holte meinen Hut und meinen Mantel. Beim Hinausgehen entdeckte ich eine Reihe kleiner Holzfiguren, die im Schilf der Wand über Lucas’ Bett saßen. Ich kniete mich hin, um sie genauer zu betrachten. Es waren grob geschnitzte, aber wunderschöne Tiere. Ungefähr ein Dutzend, jedes nicht größer als ein Finger, aus Treibholz geschnitzt. Hunde, Fische, Vögel, ein Seehund, Kühe, ein Pferd . . . Es waren nur wenige Details herausgearbeitet und doch hatte jedes kleine Tier seinen sofort erkennbaren eigenen Charakter. Neben den Figuren hing ein Hirschhornmesser mit knapp zwanzig Zentimeter langer Klinge an einem Ledergürtel von der Wand. Die Klinge war am Schaft schwerund breit und lief vorn zu einer nadelscharfen Spitze zusammen. Es war kaum zu glauben, dass die wunderbaren Tiere mit einem so tödlich erscheinenden Werkzeug gestaltet sein konnten.
Ohne nachzudenken fasste ich hinüber und griff nach einer der Figuren, einem vertraut wirkenden Hund.
»Was hältst du davon?«
Der plötzliche Ton von Lucas’ Stimme schreckte mich auf, ich fuhr herum und betastete die Figur mit den Fingern. »Oh . . . tut mir Leid – ich hab mir nur gerade –«
»Ist schon in Ordnung«, sagte er lächelnd. »Was hältst du davon? Hab ich seine Seele erfasst?«
Ich schaute mir die Schnitzerei in meiner Hand an. Natürlich – es war Deefer. Das
war
er. Der Blick, der Kopf, die Art, wie er seinen Schwanz hielt, alles. Ein hölzerner Miniatur-Deefer.
Ich lachte. »Perfekt . . . der sieht
genau
aus wie er. Wie hast du das geschafft?«
»Ich hab einfach ein Stück Holz gefunden und alles weg geschnitten, was nicht Deefer war.«
Ich nickte vage, nicht sicher, ob er einen Witz machte oder nicht.
»Du kannst ihn behalten, wenn du willst«, sagte er.
»Bist du sicher?«
»Er ist dein Hund.«
»Danke«, sagte ich und rieb meinen Daumen über die geschnitzte Figur. Sie fühlte sich glatt und warm an, fast lebendig. Ich stand einen Augenblick da und überlegte, was ich noch sagen könnte, aber ich fand keine Worte, mich auszudrücken.Deshalb bedankte ich mich einfach noch mal und steckte die Figur in meine Tasche. »Ich muss jetzt wirklich los. Dad macht sich Sorgen, wenn ich nicht bald zu Hause bin.«
»Ich bin bereit, wenn du bereit bist«, sagte Lucas.
Ein letztes Mal schaute ich mich um, dann setzte ich meinen Hut auf, schlang mir das Cape über die Schulter und folgte ihm aus dem Wald.
Wenn ich gewusst hätte, dass ich die Hütte und die Lichtung nie wiedersehen würde, hätte ich mir vielleicht mehr Zeit genommen. Ich hätte mir vielleicht einen längeren Abschied erlaubt und jedes winzige Detail in mich aufgesogen, bis die Erinnerung für immer fest in meinem Kopf eingegraben gewesen wäre. Das sanfte Murmeln des Bachs, die Rhododendren und die sonnengesprenkelten Bäume, der unvergessliche Grasteppich mit den Juwelen . . .
Aber so läuft es nicht im Leben, oder? Und vielleicht ist es auch besser so. Denn manche Dinge sollen nicht mehr
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