Lucian
hörte nicht länger hin.
Ich wusste nicht, ob es an dem Namen meiner Mutter lag, an Michelles angeekeltem Gesichtsausdruck oder einfach daran, dass ich endlich wieder ein Mensch mit eigenen Entscheidungen sein wollte.
»Ich möchte auf eine öffentliche Schule«, sagte ich ruhig und sah Dad in die Augen. »Ich habe gehört, dass es an der Pali High nichts auszusetzen gibt.«
Dad machte ein hilfloses Gesicht und Michelle legte ihre Gabel nieder.
»Warum nicht?«, sagte sie. »Wenn Rebecca es so will, brauchen wir das Geld nicht zum Fenster rauszuwerfen. Die Pali High ist nicht schlecht. Du kannst sie morgen anmelden und vermutlich kann sie dann gleich dort anfangen.«
Dad seufzte. »Möchtest du dir die anderen Schulen wirklich nicht erst einmal anschauen, Rebecca? Oder einfach noch ein bisschen zu Hause bleiben?«
Ehe ich antworten konnte, erhob sich Michelle mit Val auf demArm vom Tisch. »Zeit für die Wanne, mein Schatz. Lassen wir Daddy und Rebecca ein bisschen allein, einverstanden?«
Val schien ganz und gar nicht einverstanden zu sein, widersprach aber nicht. Als die beiden gegangen waren, öffnete Dad wieder den Mund, um seine Überzeugungsarbeit fortzusetzen, aber ich unterbrach ihn.
»Warum bin ich hier, Dad?«
Mein Vater blinzelte unsicher mit den Augen. »Was meinst du? Ich . . .«
»Ich meine, dass ich nicht weiß, warum ich hier bin. Was hat dir Janne erzählt? Was war der Grund, warum sie mich in einer Nachtund-Nebel-Aktion hierherverbannt hat?«
Bei dem Wort verbannt zuckte Dad zusammen, als hätte ich ihn geschlagen.
»Ich weiß nicht mehr als du«, sagte er und ich fühlte, dass es die Wahrheit war. »Ich weiß nur, dass Janne etwas von diesem Jungen, diesem Lu. . .«
»Schon gut.« Meine Hände schossen in die Höhe. Ich wollte seinen Namen nicht aus Dads Mund hören. Mein Vater sah mich ängstlich an.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich flipp nicht wieder aus. Ich wollte nur wissen, ob Janne dir mehr gesagt hat als mir.«
Dad schüttelte den Kopf.
»Dann wäre das ja geklärt«, sagte ich. Mir war klar, dass ich Dad wehtat, ich wusste, dass ich hart klang, und beinahe tat er mir leid. Er gab sich solche Mühe, so zu tun, als ob nichts gewesen wäre oder als ob wie durch ein Wunder alles eine gute Wendung genommen hätte. Aber ihn in diesem Glauben zu lassen, ging zu weit. Dass ich wieder Zugang zu meinen Gefühlen hatte, hieß nicht, dass es gute Gefühle waren.
»Und was die Schule betrifft«, fuhr ich fort. »Meine Entscheidung steht fest. Kannst du mich morgen wecken, damit wir mich anmelden können? Oder musst du arbeiten?«
»Nein«, sagte Dad. »Ich meine, nein, ich muss nicht arbeiten. Ich weck dich, little Wolf. Wir fahren zur deiner Schule und melden dich an. Und hier«, Dad zog sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und hielt mir eine Kreditkarte hin. »Die ist auch für dich, ich hab an deinem Geburtstag ein Konto für dich eröffnet. Du weißt ja«, er grinste schief. »In Amerika ist man ohne Karte nichts wert.«
»Danke«, sagte ich und starrte meinen Namen auf der Plastikkarte an. »Auch fürs Essen, das war sehr lecker. Aber Dad, tu mir den Gefallen und nenn mich nicht little Wolf. Ich bin siebzehn und ich habe einen Vornamen.« Ich stand auf und wollte die Teller abräumen, aber Dad winkte ab. »Ich mach das schon«, sagte er müde.
Ich ging auf mein Zimmer und stellte mich eine gute halbe Stunde unter die Dusche. Die Ereignisse des heutigen Tages, der so voll, so unwirklich und gleichzeitig so real gewesen war wie schon lange nichts mehr, kreisten mir noch wild durch den Kopf. Doch das Gespräch mit Faye hatte mir Zuversicht gegeben und an dieses Gefühl klammerte ich mich.
Das Essen war gut gelaufen, halb so schlimm, wie ich es befürchtet hatte, Michelle hatte sich sichtlich Mühe gegeben, vielleicht war sie sogar ganz in Ordnung. Meine Entscheidung, was die Schule betraf, hatte ich durchgesetzt. Und was den nächsten Schritt betraf, mein Leben in den Griff zu bekommen, war ich auch absolut sicher. Plötzlich brannte ich sogar darauf.
Ich zog mir ein Sweatshirt und eine Jogginghose an, kuschelte mich aufs Sofa und griff nach dem Telefon. Es war zehn Uhr abends, in Hamburg würde gleich die Schule beginnen, aber wenn ich Glück hatte, war ich noch nicht zu spät.
Ich tippte die Nummer ein, hielt den Atem an und gleich nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben.
»Hallo?«
Ich schluckte. »Hi.« Stille am anderen Ende.
Dann: »Rebecca? Becky? Meine Becky?
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