Luciano
Sie wollen Maria dort aufsuchen?«
»Ja, sagen wir, ich habe es entschieden vor.«
»Bei Ihnen geht alles
ruckzuck«, sagte Luciano. »Ich möchte wetten,
daß Sie ein brillanter Schachspieler sind. Und Gefühle
gibt's nicht. Haben Sie jemals geliebt, Professor? Ich meine, wirklich
geliebt?«
Carter nickte. »O ja, ganz entschieden.«
»Wann war das?«
»Vor ungefähr tausend
Jahren – ich war damals sechzehn. Eine Farmerstochter in Norfolk,
wo wir immer die Ferien ver brachten. Ich sehe sie noch heute, wie sie
in ihrem Baumwoll kleidchen über die Sanddünen lief.«
»Was ist passiert?«
»Sie starb während der
Grippe-Epidemie kurz nach Kriegs ende. Und ich war bereits vor meinem
siebzehnten Geburtstag vom Internat ausgerückt und zur Infanterie
gegangen. Ich fand das damals höchst romantisch.«
»Verständlich«, sagte Luciano ernst.
»Zu Beginn des großen Angriffs 1918 zählte unser Bataillon
752 Mann. Drei Monate später waren wir noch
dreiundsiebzig. Ich war nicht umzubringen, und sie mußte an der
verdammten Grippe sterben.« Luciano sagte ruhig: »Und Sie
haben nie geheiratet?« »Doch, meine Cousine zweiten Grades,
Olive, 1923.« »Haben Sie sie geliebt?« »Wir
konnten uns schon als Kinder gut leiden, und Olive liebte mich von
ganzem Herzen.«
»Haben Sie Kinder?«
»Nein, sie erlitt sehr bald eine folgenschwere Fehlgeburt.«
»Werden Sie sie besuchen, wenn wir rüberkommen?«
Carter schüttelte den Kopf. »Geht nicht, sie starb 1938 an Krebs.«
Luciano nickte. »Dann kam Ihnen der Krieg also gerade recht.«
Carter starrte ihn verblüfft an. »Glauben Sie?«
»Sie etwa nicht?« Luciano
schob sich den Schlapphut über die Augen, kreuzte die Arme und
schlief ein.
6
Es goß in Strömen, als in der
folgenden Nacht die Ju-88Pfadfinder den ersten Angriff auf die Docks
von Liverpool einleiteten. Schwester Maria Vaughans Dienst im
Allgemeinen Krankenhaus wäre eigentlich um sieben Uhr beendet
gewesen, aber erfahrene Operationsschwestern waren so knapp, daß
Pro fessor Tankerley sie im letzten Augenblick bat, bei einer Lei
chenöffnung im Sektionssaal zu assistieren. Keine besonders
angenehme Arbeit, aber sie mußte getan werden.
Im Präparationsraum zog sie
rasch einen frischen weißen Kittel über ihr Ordenskleid und
setzte vor dem Spiegel die Haube zurecht. Sie war dreiundzwanzig, zart
gebaut und hatte ein ernstes, beherrschtes Gesicht, auf den ersten
Blick ein Durchschnittsgesicht, doch die meisten Leute warfen unwill
kürlich einen zweiten Blick darauf. Nur die Augen verrieten sie,
der Ausdruck rastloser Suche, der enthüllte, daß ihre
äuße re Gelassenheit immer wieder aufs neue erkämpft
werden muß te.
Als Maria den Obduktionsraum betrat,
war Tankerley bereits da, ein kleiner energischer Mann in einem
weißen Kittel, dem man ansah, daß sein Träger heute
schon eine Menge Arbeit hinter sich hatte. Der dritte im Raum war der
unter einem wei ßen Laken ruhende Tote.
Tankerley zog ungeduldig ein Paar
Gummihandschuhe über. »Beeilen Sie sich, Schwester. In einer
Stunde habe ich Visite.« Er hätte schon vor drei Jahren in
Pension gehen können und tat nur wegen des Krieges noch weiter
Dienst. Er war ein ausge zeichneter Chirurg und überzeugter
Atheist, der von Nonnen im allgemeinen nicht viel hielt und von Nonnen
in Kranken
häusern erst recht nichts.
Auf einem Wagen neben dem Operationstisch lagen
chirur gische Instrumente aller Art. Schwester Maria zog das Laken weg
und faltete es säuberlich. Die Leiche war die eines Mannes
mittleren Alters mit breiten Schultern und kräftigen, muskulö
sen Armen, der sich offenbar bester Gesundheit erfreut hatte. Die Augen
waren geschlossen, der Gesichtsausdruck friedlich.
»Da wir wie üblich knapp an Personal sind und kein Steno
graph zur Verfügung steht, werde ich das
Obduktions-Protokoll später aus dem Gedächtnis anfertigen
müssen«, sagte Tanker ley zu Maria. »Der Mann wurde um
fünf Uhr dreißig in der Lime Street nahe einer
Bushaltestelle auf dem Gehsteig gefun den. Alter etwa fünfzig,
gute körperliche Verfassung, keine sichtbaren Zeichen
äußerer Verletzung, demnach offenbar nicht Opfer eines
Überfalls. Wie würde Ihre Diagnose lauten, Schwester?«
»Herzschlag?« sagte sie.
»Ja, könnte stimmen.
Paßt alles, auch das Alter, also können wir uns in diesem
Fall alles übrige ersparen und gleich aufs Herz losgehen.«
Er streckte die Hände aus.
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