Lucy in the Sky
anprobieren?«
»Unbedingt.«
Wir entfernen die Plastikhülle und nehmen das Kleid von seinem gepolsterten Bügel. Molly hat mich schon oft genug in Unterwäsche gesehen – obwohl sich mein Körper bestimmt etwas verändert hat, seitdem wir beide sechzehn waren. Mit ihrer Hilfe ziehe ich das Kleid über den Kopf, und sie macht den Reißverschluss zu. Einen schrecklichen Moment lang bete ich, dass James meine Maße nicht an den Jeans genommen hat, die ich letzten Sommer gekauft habe, denn inzwischen war Weihnachten, und ich hab ein paar Pfund mehr auf den Rippen. Aber das Kleid sitzt hervorragend, ja, sogar eher reichlich als zu knapp.
»Das kann ich noch ein bisschen enger machen«, sagt Molly. Dann öffnet sie eine Schranktür, und ein großer Spiegel erscheint.
»Wunderschön«, sage ich ehrfürchtig.
»Was ist denn hier los?«, fragt Sam schläfrig von der Tür aus. Dann bemerkt er mein silbernes Kleid. »Hey, Lucy. Gefällt es dir?«
»Ich liebe es!«, antworte ich begeistert.
»Gott sei Dank. Molly hat sich deswegen schon seit Wochen
Gedanken gemacht.«
Sam und Molly arbeiten beide die Woche über, also muss ich mich tagsüber selbst beschäftigen. Im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Touristen, scheint in Australien keineswegs immer die Sonne. In Sydney kann es richtig ordentlich regnen, vor allem im März, der jetzt bald anfängt. Aber für den Moment scheine ich Glück zu haben, und ich verbringe meine ersten beiden Tage hauptsächlich faul auf einer der Sonnenliegen im Garten.
Doch am Mittwoch ist der Himmel bewölkt. Molly geht zu Fuß zur Arbeit, lässt mir aber die Schlüssel für ihren kleinen roten Peugeot da, und wir vereinbaren, wo ich sie heute Nachmittag aufgabeln soll. In Australien versichert man das Auto, nicht den Fahrer, daher kann jeder, der einen Führerschein hat, einfach damit fahren, und da es mich allmählich nervt, mich beim Faulenzen x-mal mit Sonnenschutzfaktor 30 einreiben zu müssen, freue ich mich auf ein bisschen Abwechslung und einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit.
Nach einem etwas holprigen Anfang gewöhne ich mich an die Kupplung des Peugeots, fahre den Berg runter nach Manly und komme erst am Ivanhoe Park und dann am Kricketplatz vorbei. Vor mir liegt das Meer – wild und rau. Dann geht es wieder bergauf. Unter mir liegt still und türkisgrün die kleine Bucht. Unglaublich, wie ruhig das Wasser im Vergleich mit dem offenen Meer auf der anderen Seite von Manly ist. Ich sehe zu, wie ein Mann im Kajak zwischen den Segelbooten herumpaddelt, die hier vor Anker liegen. Ich fahre weiter, und bald bin ich wieder auf dem Weg in die Stadt, vorbei an der Grundschule, in der Sam, Molly und ich uns vor langer, langer Zeit kennengelernt haben. Kleine Mädchen in den blau-weiß karierten Faltenröcken der Schuluniform spielen auf dem Pausenhof vor dem Gebäude mit Jungs in weißen Hemden und blauen Shorts.
In Manly ist das Meer wesentlich unruhiger, als ich es erwartet habe. Der Strand ist sogar für Schwimmer geschlossen. Für Surfer gelten diese Regeln nicht, und ich halte kurz auf einem Parkplatz, um übers Meer zu schauen und ihnen zuzusehen.
Ungefähr fünfzehn Jungs hocken auf ihren schwankenden Brettern, dem endlosen Ozean zugewandt. Mit ihren schwarzen Neoprenanzügen und den dunklen nassen Haaren erinnern sie mich an Seehunde. Auf einmal dreht sich einer von ihnen um und fängt an zu paddeln, dann bewegt er sich, steht auf dem Brett und gleitet durch das Auf und Ab der Wellen. Nach und nach schließen sich ihm die anderen an, und ihre Bretter schneiden wie Jetskis durch die Brandung, ehe sie von den Wellen verschlungen werden. Dann paddeln sie wieder hinaus und warten, bis sich ihnen die nächste günstige Gelegenheit bietet.
In der Ferne flappt ein Pelikan mit den Flügeln und fliegt, parallel zum Horizont, in den Wind hinein. Ich beobachte ihn eine Weile und verliere ihn beinahe aus den Augen, als er dicht über der Brandung segelt, fast unsichtbar vor dem dunklen Wasser und der weißen Gischt.
Die dunklen Wolken verdichten sich, und es beginnt zu regnen. Den Surfern ist das egal – sie sind sowieso nass. Ich frage mich, wie lange sie wohl schon da sind. Ich stelle die Scheibenwischer an, wende und fahre die Küste entlang zurück, am Surfshop vorbei, vor dem Dutzende Surfbretter und Neoprenanzüge zum Leihen aufgereiht sind. Schließlich biege ich nach rechts ab und fahre die Straße hinauf, in der wir die drei Jahre vor unserer Rückkehr nach England
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