Lucy kriegt's gebacken
Debbie, die einmal meine Freundin war, aus der Toilette. Sie wirft mir ein nichtssagendes Lächeln zu, blickt knapp an mir vorbei und will weitergehen.
„Hallo, Debbie.“ Ich blockiere ihr den Weg. Meine Stimme könnte etwas zu laut sein.
„Oh! Ähm … Lucy!“, sagt sie, als ob sie mich jetzt erst erkennen würde. Sie sieht aus wie ein erstarrtes Reh im Scheinwerferlicht. Nein. Ein Opossum im Scheinwerferlicht. Sie hatte immer schon ein verschlagenes kleines Gesicht. „Hi, wie geht es dir?“
„Tja, witzig, dass du fragst, Debbie. Mein Mann ist vor fünf Jahren gestorben. Ich weiß, dass du ganz schön traurig warst. Aber rate mal? Ich war das auch. Es wäre nett von dir gewesen, wenn du mich auch nur ein Mal angerufen hättest. Da du schließlich meine Freundin warst und alles.“
Sie starrt mich an, ihr Gesicht zuckt ein wenig. Sie öffnet den Mund, aber ich will das, was immer sie zu sagen oder nicht zu sagen hat, nicht hören. Ich trete einen Schritt zur Seite, um sie durchzulassen. Mein Atem geht schnell und stoßweise, ich sehe mich nach einem Versteck um, weil ich jeden Moment in Tränen ausbrechen könnte.
Die Garderobe. Bestens. Dort ist niemand. Ich schließe die Tür hinter mir, atme tief durch und verschränke die Arme vor der Brust. Drei große Kleiderstangen mit Mänteln und Jacken umgeben mich, die leeren Metallhänger klimpern leise durch den Luftzug, den ich verursacht habe.
„Lucy? Bist du da drin?“ Ethan. Natürlich.
Ich antworte nicht. Die Garderobentür hat kein Schloss. Ethan kommt herein und schließt die Tür leise hinter sich.
„Erst machst du mit Charley Spirito rum, dann geigst du Debbie Keating die Meinung“, überlegt er laut. „Anstrengender Abend.“
„Bitte nicht“, flüstere ich.
Er nickt und blickt zu Boden. „Entschuldige. Der Kommentar über die Scones war geschmacklos. Verzeihst du mir?“
Ich nicke, der Kloß in meinem Hals ist zu dick, um zu sprechen.
„Jetzt komm wieder raus. Deine Mom sucht dich.“
„Ethan“, versuche ich es, aber meine Stimme bricht. Meine Lippen zittern, ich presse sie zusammen.
„Hey.“ Ethan schaut mich überrascht an und kommt einen Schritt näher. Er umfasst meine Oberarme. „Was ist denn los, Süße?“
Tränen springen mir in die Augen, und auf einmal bin ich an Ethans Schulter gepresst, habe die Arme um seine Hüfte geschlungen und weine. Ziemlich heftig. „Ich war so stolz, Ethan“, schluchze ich. „Dass ich die Erste war, die sie nach all den Jahren gesehen hat. Dass vielleicht irgendetwas, das ich gesagt habe oder diese verdammten Scones … vielleicht etwas in ihr ausgelöst haben. Sie hat geredet und gelächelt und alles, wie früher, weißt du? Die schwarzen Witwen waren so glücklich, es war wie eine große Party, und dann … Ich weiß, es ist dumm, aber warum muss jeder sterben?“ Ich bekomme einen Schluckauf.
„Liebling, sie war einhundertvier Jahre alt“, murmelt Ethan an meinem Haar. Er hat die Arme um mich gelegt und streichelt mit einer Hand über meinen Rücken. Er fühlt sich so gut an. Er riecht so gut. „Sie war einfach … so weit. Das ist alles. Und ihr hattet noch diesen unglaublichen Tag mit ihr, diesen einen letzten Tag, an dem sie noch einmal sie selbst war.“ Seine Stimme ist sanft. „Du solltest glücklich sein, Schatz. Das war ein Geschenk. Du konntest noch ein letztes Mal mit ihr sprechen. Was meinst du, was ich dafür geben würde, wenn ich …“
Er bricht jäh ab. Ist egal, ich weiß auch so, was er sagen wollte.
Ich lehne mich ein Stück zurück, um ihn anzusehen. Seine Augen blicken so traurig.
In all den Jahren habe ich Ethan niemals weinen sehen. Nicht bei Jimmys Beerdigung, nicht in den schrecklichen Tagen danach, niemals. Ich frage mich, wie unendlich viele Gefühle er wohl in sich hineingefressen hat.
Sehr zart wischt er mit dem Daumen meine Tränen weg. „Weine nicht, Liebling. Das halte ich nicht aus“, murmelt er.
Und da küsse ich ihn. Seine herrlichen, vollen Lippen sind so warm, so vertraut. Ungefähr drei volle Sekunden lang rührt er sich keinen Millimeter. Dann erwidert er meinen Kuss, nur ein wenig, seine Lippen bewegen sich kaum. Ich vergrabe meine Finger in seinem Haar und ziehe ihn enger an mich, und, oh Gott. Wie habe ich ihn vermisst. Das hier vermisst.
Er umarmt mich fester, und die Kleiderbügel klimpern wieder, als wir dagegenfallen. Jetzt ist sein Mund an meinem Hals, sein Bart kratzt sanft über meine Haut. Meine Knie werden beinahe
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