Luderplatz: Roman (German Edition)
Rechtsmedizin Münster hätte auch das Einwohnermeldeamt sein können. So unspektakulär sah es hier aus. Helle Fliesen, weiß getünchte Wände, große Fenster, funktionale Möbel.
Viktoria hatte keine Zeit, sich umzuschauen, sie suchte mal wieder in ihrer Tasche nach einem Block, einem Stift und fand nur jede Menge Müll: alte Eintrittskarten, leere Kaugummipackungen, Sand vom Oststrand, der bewies, dass der Berliner Sommer doch gar nicht so mies gewesen war, wie alle sagten – und dass sie dringend mal wieder klar Schiff machen musste. Da, ein Kugelschreiber! Triumphierend griff sie danach und blickte direkt in das Gesicht von Dr. Frank Metzger, der – das sah Viktoria sofort – kein Verständnis für das dreckige Grauen in ihrer Tasche haben würde. Dieser Mann war perfekt und sauber. Ein perfekter Saubermann sozusagen. Ganz schlecht, dachte sie, lächelte ihn an, als sei gerade die Sonne aufgegangen, und ergriff seine Hand.
Ursula Kleinhölter konnte von ihrem Küchenfenster aus den Briefkasten ihres Nachbarn genau sehen. Sie bemerkte das Anzeigenblättchen, das dort herausragte, und war augenblicklich gereizt. Bin ich nun zuständig oder nicht?, dachte sie und ärgerte sich über die jungen Leute, die nie eine Sache zu Ende brachten. Heute hier, morgen dort. Ihre eigenen Kinder waren nicht besser, warum sollte also die Tochter ihres Nachbarn anders sein.
Sie wartete bis nach dem Abendbrot und beschloss, jetzt wieder zuständig zu sein. Sie ging zum Haus gegenüber, öffnete den Briefkasten, nahm die Post heraus und schloss die Haustür auf. Sie legte Post und Anzeigenblättchen auf einen Stapel in der Küche, goss die Blumen im Wohnzimmer und ging nach oben, um nach dem Rechten zu sehen und ein bisschen Staub zu wischen. Es war nicht viel, doch nur, wenn man es regelmäßig tat, wurde es auch nicht viel. Das Zimmer des Verstorbenen war kühl, und es roch frisch. Gott sei Dank gibt es jetzt diese Luftreiniger. Riecht gleich alles viel sauberer, fand Ursula Kleinhölter und atmete die wilde Brise ein. Sie trat wieder auf den Flur und steuerte zum letzten Zimmer, hinten rechts im Flur. Als sie die Tür öffnete, fiel ihr das feuchte Staubtuch aus der Hand. Erst sah es so aus, als schliefe sie. Doch die junge Frau, die dort unter der geblümten Daunendecke lag, war tot. Und so blieb das Zimmer für diesen Tag ungeputzt.
5. Kapitel
Als sie vor der dunklen Tür des Gasthauses König standen, zögerte Viktoria eine Sekunde. Sie atmete durch, spürte den Nieselregen in ihrem Nacken, dann ein leichtes Kribbeln in ihrer Magengegend. Gleich würde sie Harry wiedersehen. Den schmalen Wirt mit dem braven Seitenscheitel, der so wenig wie nötig sagte. Er würde am Tresen stehen, der von warmem Kneipenlicht beschienen wurde. Sie lächelte. Vielleicht würde auch Rosa, die aufdringliche Wirtin, sie begrüßen und ihr ein frisch gezapftes Bier bringen. Beschwingt trat sie ein – und traute ihren Ohren nicht. »Über den Wolken« ertönte tief und durchdringend aus dem Saal nebenan. Fragend schauten sich Mario und sie an.
»Was ist denn hier los?«, fragte sie, doch ihr Kollege hatte keine Antwort darauf. Stattdessen steuerte er auf einen leeren Platz an der Theke zu und bestellte bei der Bedienung, einem jungen Mädchen, zwei Bier.
Viktoria blickte sich um. Von »Über den Wolken« verebbten die letzten Takte, dann hörte sie dunkles Lachen, eine Schiebetür wurde geöffnet, Männer strömten in den Kneipenraum und sammelten sich an der Theke. Niemand nahm sie wahr, niemand begrüßte sie. Viktoria hielt Ausschau nach Harry. Da, endlich entdeckte sie ihn. Er lächelte freundlich und kam auf sie zu, sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Doch Harry, der währenddessen einen Bestellblock aus der Hosentasche gezogen hatte, ging an Viktoria vorbei. Er hatte die Leute hinter ihr angelächelt. Sie saßen am Tisch in der Ecke mit Speisekarten in der Hand.
»Hier!« Mario hielt Viktoria ein Glas entgegen. »Prost! Auf meine Recherche.« Er grinste und stieß mit ihr an. Noch bevor sie etwas erwidern konnte, hatten ihn ein paar Männer erkannt.
»Hey, da ist ja der Berliner Schützenkönig«, riefen sie und prosteten ihm zu. Danach tranken und sprachen sie weiter miteinander, als seien Viktoria und Mario gar nicht anwesend.
Viktoria wurde langsam ungehalten. »Sag mal, sind wir unsichtbar?«
Mario tat so, als wolle er die Frage ernsthaft beantworten, und musterte Viktoria von oben bis unten. »Ne, du bist durchaus zu
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