Luderplatz: Roman (German Edition)
entgegen. Mario nahm sie ihr aus der Hand und blieb stumm. Er drehte die Karte, hielt sie weiter entfernt und schüttelte schließlich den Kopf. »Meinst du, das hat wirklich was mit dem Florian zu tun?«
Viktoria nickte ernst. »Genau das meine ich.«
»Aber, das kann doch nicht sein.«
Viktoria stand auf. Die beiden Teenager traten von einem Bein aufs andere. »Passt auf, ich behalte die Kiste und kümmere mich um alles – okay?«
Die beiden nickten dankbar, schlurften zu ihren Fahrrädern, die an der Fachwerkmühle lehnten, und radelten davon. Als sie außer Hörweite waren, begann Viktoria wieder zu sprechen.
»Ich verstehe es doch auch nicht. Wieso hier – in Westbevern? Florian ist in Berlin verschwunden!« Sie griff nach der Karte und schaute sie sich noch einmal von allen Seiten an. » Finde mich! Das klingt wie ein Hilfeschrei. Scheiße Mario – hat er mir das hier geschickt?«
Mario schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Das ist sicher ein blöder Zufall. Es gibt viele Jungen, die Florian heißen.«
»Aber nur einen, der seit fünf Jahren spurlos verschwunden ist.« Sie machte eine Pause und strich mit ihrem Zeigefinger über die Sammelkarte. »Florian war Basketballer …«
Mario wusste nicht, was er sagen sollte. Stumm standen die beiden Reporter im feuchten Herbstlaub. Das Rauschen des kleinen Wasserfalls übertönte ihr Schweigen – beide wussten, dass sie jetzt gerade an den Fall Florian dachten. Denken mussten. Schön waren diese Erinnerungen nicht.
Im Winter vor fünf Jahren war er – kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag – nach dem Basketballtraining am Nachmittag nicht nach Hause gekommen. Viktoria hatte als Polizeireporterin darüber berichtet. Mario sollte eigentlich auch an der Geschichte arbeiten, doch er meldete sich krank. In Wahrheit ging ihm die Sache zu nahe. Er kannte die große Schwester des Jungen, doch das brauchte beim Express niemand zu wissen. Auch nicht Viktoria.
Mario hatte sie ein paar Wochen vorher auf einem Pressetermin kennengelernt. Bella hatte ihm ein paar Häppchen gereicht. Die Häppchen schmeckten gut, und Bellas Lächeln war auch sehr appetitlich, fand Mario, und so verwickelte er das hübsche Catering-Mädchen in ein Gespräch über Wirtschaftspolitik. Immerhin hatte Mario gerade die Vorstandsvorsitzenden eines Autozulieferungsunternehmens fotografiert. Doch schnell stellten Bella und er fest, dass sie sich mehr füreinander als für die neuen Umsatzzahlen interessierten. Sie verabredeten sich für das nächste Wochenende im Zosch, und Mario war fasziniert von Bellas Fähigkeiten am Kicker. Zu seiner eigenen Überraschung dachte er gar nicht daran, sie möglichst schnell mit nach Hause zu nehmen – er wollte lieber weiter gemeinsam mit ihr gegen die arroganten Studenten gewinnen, die sich als Gegner angeboten hatten. Sie siegten 10:2, vertranken die Siegerprämie – eine Flasche Sekt – und hatten einen wunderbaren Abend. Die Nacht bekam der Fotograf nicht geschenkt. Dafür ein nächstes Date. Und noch eins. Und noch eins. Sie kochte für ihn, sie schlief mit ihm. Sie verabredeten sich wieder.
Dann kam die Absage. Eine kurze SMS von ihr, völlig gefühllos, fand er. Ohne Begründung, ohne Entschuldigung. Einfach nur: »Es geht heute nicht.« Er war sauer. Doch dann erfuhr er, warum es nicht ging. Bellas kleiner Bruder Florian war verschwunden. Die Polizeiredaktion wusste es von der Polizei, die Medien wurden bewusst eingeschaltet, um bei der Suche zu helfen. Der Lokalchef des Express teilte die Kollegen ein. Mario schob eine Magen-Darm-Grippe vor. Er war feige. Er rief Bella nicht an. Und als er es dann Wochen später doch tat, war sie weg. Mit tonloser Stimme hatte Bellas Mutter am Telefon gesagt. »Sie ist ausgezogen. Sie hat uns verlassen. Sie auch.« Dann legte sie auf.
Mario spielte nie wieder mit einer Frau Seite an Seite an einem Kicker.
»Wollen Sie in der Loburger Gräfte angeln gehen?« Rosa, die kittelbeschürzte Wirtin des Gasthauses König, stand mit Bestellblock neben Viktoria und schaute neugierig über deren Schulter. Sie betrachtete die Gegenstände, die die Berlinerin sorgfältig auf den dunklen Holztisch gelegt hatte. Viktoria blickte auf. Genervt. Doch vielleicht könnte ihr die rotgesichtige Rosa tatsächlich helfen.
»Wieso Loburger Gräfte, was ist das?«
Rosa tippte auf die Postkarte. »Das hier ist die Loburg. Ein altes Wasserschloss mit ’ nem Burgraben drum herum, also einer Gräfte. Da ist ein Gymnasium
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