Luderplatz: Roman (German Edition)
Flammen stand, ganz entspannt in eine feuerfeste Schale fallen, die damals offensichtlich zur Standardausrüstung eines jeden Schreibtischs gehörte.
Doch Kai Westmark befand sich nicht in einem alten Film, er stand mitten in seiner Praxis und schüttelte den Kopf über seine eigene Dämlichkeit. In seiner linken Hand hielt er ein orangefarbenes Blatt, in seiner rechten ein Feuerzeug, doch wohin sollte er das brennende Papier werfen? Kein Kamin und keine feuerfeste Schale waren in Sicht. Sein Blick fiel auf das weiße Waschbecken, danach auf den Feuermelder an der Decke. Er schüttelte erneut den Kopf und sank auf seinen Schreibtischsessel. Eigentlich hatte er nur die Unterlagen seines Vaters sortieren wollen. Krankenakten, die zu alt waren, als dass sie relevant oder aufbewahrungspflichtig waren, wollte er endlich wegwerfen, andere nach einem neuen System sortieren. Er kam sich vor wie Aschenputtel. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins … Feuer? Er steckte sein Feuerzeug wieder in seine Jeanstasche und griff nach der Schere. Er schnitt kleine, schmale Streifen und Schnipsel aus dem Papier. Die Buchstaben A N A N P N E K P O A P M fielen durcheinander in den Mülleimer. Wer würde sich die Mühe machen, aus diesem Puzzle den richtigen Namen zusammenzusetzen? Nur er wusste die Lösung.
Wirkt durch seine robuste Erscheinung Furcht einflößend und hält potenzielle Angreifer auf Distanz. Die hohe Spannung und Ampereleistung ermöglichen eine sofortige Neutralisierung des Angreifers.
Rita Rose las den Beipackzettel und war zufrieden. Sie hatte es geschafft. Niemand hatte sie erkannt, der Elektroschocker fühlte sich gut und schwer in ihrer Hand an. Neutralisierung! Ja, das war das passende Wort. Sie wollte keine leidenschaftlichen Wutausbrüche mehr. Nie mehr. Sie legte die Eine-Million-Volt-Waffe unter ihr Kopfkissen. Gut, dass sie so viel Platz in ihrer Villa hatten und er im Gästezimmer schlief. Gut für ihn. Sollte er es jemals wieder wagen, sie anzurühren, sie würde die vergoldeten Elektroden zum Einsatz bringen. Das würde sie. Rita Rose schlief gut in dieser Nacht, obwohl – oder weil – sie das harte Plastik des Elektroschockers durch das Kissen an ihrer Wange spürte.
Nie würde er vergessen, wie sein Vater ihn damals angesehen hatte, nachdem SIE in seiner Praxis gewesen war. Dann kamen die bangen Tage danach. Würde sie ihn wirklich anzeigen? Wegen der blauen Flecken, wegen der Würgemale?
Wie hatte sie es nur geschafft, diesen Hass in ihm hervorzurufen? Ich hätte sie erschlagen sollen, hatte Kai damals gedacht. Die Schnipsel lagen auf dem Grund des Papierkorbs. Kai schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie sich sortierten – wie jeder Buchstabe an seinen Platz rückte. Das N ganz nach vorn, danach das A. Es folgte das zweite N und wieder ein A. Dann das geschwungene O, Doppel-P und das verschnörkelte E. Dicht gefolgt vom N, K, A und M. Und zum Schluss noch ein P: N A N A O P P E N K A M P . Nana Oppenkamp. Verflucht sei sie in alle Ewigkeit!
Doch er wusste, der eigentlich Verfluchte war er selbst.
»Cola light?« Harry ahnte, was Viktoria brauchte.
Dankbar nickte sie dem schmalen Wirt des Gasthauses König zu. Sie hatte ihr Netbook auf den kleinen, hohen Tisch gestellt, der in einer gemütlichen Nische gleich neben der Theke platziert war. Ohne vom leuch-tenden Bildschirm aufzuschauen, fragte sie: »Wieso klappt das jetzt? Sogar das Internet funktioniert über mein Handy. Wo ist das Westbeverner Funkloch geblieben?«
Harry zeigte irgendwo Richtung Himmel. »Neue Antenne!« Er stellte das Glas vorsichtig neben Viktorias Laptop und fragte nicht, was sie suchte.
Wahrscheinlich wusste er, dass sie keine gute Antwort gehabt hätte. Was suchte sie? Was hätte sie sagen sollen?
Es war einmal ein Junge, der Florian hieß und der verschwand. Einfach so. Er war dreizehn, als er vom Berliner Erdboden verschluckt wurde. Doch jetzt, fünf Jahre später, fand die Reporterin, die immer wieder mit traurigen Worten beschrieben hatte, wie sehr die Eltern darunter litten, dass sie nicht wussten, was mit ihrem Kind geschehen war, einen Hinweis. Eine Nachricht aus dem Nichts, die nur angekommen war, weil es in Westbevern jetzt einen neuen Funkmast gab, lockte sie zu einem geheimen Schatz. Und dieser Schatz war voller Rätsel, die sie nur noch lösen musste – und der Junge wäre gerettet, die Eltern wären von ihrem Fluch befreit, und die Reporterin lebte glücklich und zufrieden bis an ihr
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