Luderplatz: Roman (German Edition)
untergebracht, drüben in Ostbevern. Früher gingen da nur Jungs hin.«
»Aha.« Viktoria überlegte. Natürlich könnte es sein, nein, war es sogar wahrscheinlich, dass mit der Aufschrift auf der Basketballerkarte ein anderer Florian gemeint war. Einer, der nicht aus Berlin kam, sondern vielleicht in Ostbevern auf das Wasserschloss-Gymnasium ging. Einer, der nicht verschwunden blieb. Einer, über den Viktoria nicht jedes Jahr wieder schrieb, um doch noch einen Zeugen zu finden oder einen Hinweis, irgendeine verschüttete Information.
Es war ihr jedes Jahr schwerer gefallen, mit Florians Eltern zu sprechen. Die von nichts anderem reden konnten als von ihrem Jungen. Davon, wie sie jeden Tag von der Arbeit nach Hause kämen und ein paar Sekunden lang diese Vorfreude spürten, dass er sie gleich begrüßen würde. Und davon, wie diese kleine Vorfreude nie erfüllt wurde. An keinem Tag. An keinem verdammten Tag. Viktoria saß jedes Jahr wieder bei den Eltern und schaute in ihre traurigen Gesichter. Sie waren in den fünf Jahren grau geworden, müde und alt.
Florian war jung geblieben. Er war für immer dreizehn. Sein Zimmer war das Zimmer eines Dreizehnjähri-gen. Bandposter an den Wänden, CDs im Regal, ein am Schrank befestigter Basketballkorb. Das Bett mit Alba-Berlin-Bettwäsche bezogen. Sie hatten alles so gelassen. Florians Mutter wischte jede Woche Staub, ab und zu wusch sie sogar die Bettwäsche. Früher hatte sie mit ihm geschimpft, wenn er wieder einmal nicht aufgeräumt, sein Bett nicht gemacht oder die dreckigen T-Shirts liegen gelassen hatte. Früher. Da war es unordentlich in seinem Zimmer – dafür war die restliche Welt in Ordnung. Heute war nur sein Zimmer ordentlich, der Rest der Welt war durcheinandergeraten.
Viktoria mochte Florians ruhigen Vater, sie bewunderte die aufrechte Mutter. Und sie ertrug es kaum, jedes Jahr wieder ihre Hoffnung zu spüren und zu wissen, dass sich diese nicht erfüllen würde. Sie schrieb große, emotionale Artikel, die meist sogar in der Sonntagsausgabe mehr als gut platziert wurden – doch keines ihrer schönen Worte brachte den Eltern den geliebten Sohn zurück. Dem Chef gefielen die traurigen Fotos, er lobte Viktoria für die gefühlvollen Texte und für den guten Draht, den sie zu den Eltern hatte. Sie schämte sich dafür. Am liebsten hätte sie ihnen gesagt, dass sie ihre Hoffnungen begraben müssten. Doch sie wusste, dass sie dazu erst in der Lage wären, wenn sie ihren Jungen begraben könnten. Und auch wenn sie es niemals gesagt hatten, wusste sie, dass Florians Vater und seine Mutter mit seinem Tod besser leben könnten als mit der Furcht, mit der Ungewissheit, mit der Angst, er musste oder – schlimmer noch – muss leiden. Sie malten sich Dinge aus, die sie nicht aussprechen konnten, die so schrecklich waren, dass sie sie auch nicht denken wollten, es aber taten und darunter litten, als verübte man an ihnen, was ihrem Sohn vielleicht gerade angetan wurde.
Florian. Viktoria sah das Foto von dem Jungen vor sich, mit dem nach ihm gesucht worden war. Mit Hundestaffeln. Mit Polizeihubschraubern. Mit Fahndungsplakaten. Er hatte freundliche braune Augen, sein Pony fiel ihm ins Gesicht, ein schüchternes Lächeln, die Hände in der weiten Jeans versteckt, Basketballschuhe an den etwas zu großen Füßen. Wohin haben sie ihn an jenem Tag getragen? Vor wem sind sie weggelaufen?
Viktoria sammelte den Angelhaken, die Murmel und den anderen Kram wieder ein und legte alles in die Blechkiste, dann nahm sie die Postkarte von dem Wasserschloss in ihre rechte Hand. Mario kam gerade zum Tisch und wollte sich neben sie setzen.
»Da fahren wir jetzt hin«, sagte sie und stand auf.
Mario schaute sie an wie ein großes Fragezeichen.
»Es muss ein Zufall sein! Vielleicht finden wir dort den anderen Florian.« Sie zeigte auf das Postkartenmotiv.
»In einem Schloss?«
»In einer Jungenschule.«
» Ehemalige Jungenschule«, verbesserte Rosa die Reporterin. Doch Viktoria und Mario waren schon längst auf dem Weg nach draußen. Es dämmerte bereits, und Mario fragte sich, wie Viktoria um diese Uhrzeit in einer Schule noch an Informationen kommen wollte. Doch er sagte nichts. Er konnte verstehen, dass sie alles versuchen wollte.
In alten Schwarz-Weiß-Filmen wussten die Bösen noch, wie man Beweismittel vernichtet. Sie nahmen ein Streich holz, zündeten das verräterische Dokument, das echte Testament oder den entlarvenden Brief an und ließen das Geheimpapier, wenn es in
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