Luderplatz: Roman (German Edition)
stöhnte auf.
Sie redete. »Ich wollte doch auch nicht glauben, dass die Hassmails an diese Honey von dir sind. Doch die Fotos von der misshandelten Frau, ich, ich … Ich meine, so gut kenne ich dich auch nicht. Ich habe täglich mit irgendwelchen Irren bei der Arbeit zu tun.«
»Aha, und deshalb bin ich auch irre, oder was? Und warum …« Kai musste sich zusammenreißen, damit er nicht schrie. »Warum hast du mich nicht einfach gefragt?«
Viktoria vergrub ihre Hände noch tiefer in den Taschen. »Ich habe dich gefragt. Ich habe dich nach Nana Oppenkamp gefragt. Ich habe dich nach dem Tattoo gefragt – und du hast …« Sie zögerte. »Du hast mir nicht die Wahrheit gesagt.«
»Ach, und du, Mrs. Oberehrlich, du hast also die Wahrheit gesagt?« Er lachte.
Viktoria antwortete nicht.
»Ich wusste nicht, dass Nana von jemandem … umgebracht wurde. Ich wusste auch nicht, dass du diese Denunzianten-Mails von irgendwem bekommen hast. Ich habe dir lediglich verschwiegen, dass ich eine Exfreundin namens Nana Oppenkamp hatte. Wie schrecklich!«
Viktoria schwieg immer noch. Sie ließ ihn weiterreden.
»Ich schätze, du hast mir auch nicht alles erzählt. Einer mehr oder weniger, das ist dir anscheinend egal.«
Jetzt ging er zu weit.
»Was soll das, Kai?!«
»Ach komm! Schön mit deinem Fotografen-Lover ein Zimmer im Gasthof teilen und noch einen One-Night-Stand mit dem Dorfdeppen – ach, ich meine natürlich Two-Night-Stand …«
»Hör auf! Du redest Schwachsinn! Mario und ich haben uns das Zimmer geteilt, weil alle anderen ausgebucht waren. Und du warst für mich kein One-Night-Stand …«
»Nicht? Was denn dann?«
»Ich weiß es nicht. Mehr. Mehr irgendwie.« Dann waren beide still.
Sie waren an Kais Haus angekommen. Viktoria schaute sich unruhig um, erwartete, dass Kais Mutter gleich zur Tür herauskäme. Er folgte ihrem Blick.
»Sie ist nicht da. Witwenurlaub mit einer Freundin. Norderney.«
Viktoria war erleichtert. Kai stellte sein Fahrrad auf den Kopf und begann, an der Kette herumzufummeln. Viktoria setzte sich auf die Treppenstufen, die zur Haustür führten, und schaute ihm schweigend zu.
Kai saß mit dem Rücken zu ihr. Sie sah, wie seine Finger die Pedale drehten, die Kette auf das Zahnrad schoben und immer schwärzer wurden.
Dann hielt er inne. Drehte sich kurz zu ihr um, machte weiter und begann, von Nana Oppenkamp zu erzählen. Seine Stimme war ganz leise, kaum lauter als das gleichmäßige Klackern von der Gangschaltung, wenn er das Hinterrad drehte. Doch Viktoria verstand jedes Wort – und sie verstand ihn. Die blauen Puzzleteilchen fügten sich langsam zu einem blauen Himmel.
Im Nachhinein wunderte sich Kai Westmark über seine eigene Dummheit. Schließlich war ihm doch klar gewesen, dass Nana Oppenkamp eine gute Schauspielerin war. Er hatte sie während seines Medizinstudiums kennengelernt. Sie jobbte als Simulationspatientin an der Uniklinik in Münster. Das hieß, dass sie dafür bezahlt wurde, den Medizinstudenten Krankheiten vorzuspielen, die diese dann diagnostizieren mussten.
Als Kai sie zum ersten Mal sah, jammerte sie vor Schmerzen und hielt sich ihren Bauch. Sie litt an einer akuten Blinddarmentzündung. Hätte Kai nicht gewusst, dass das hübsche blonde Mädchen die Krankheit spielte, er hätte sie sofort operiert. Ohne Zweifel, ohne zu zögern. Sie war sehr gut in ihrem Job.
Und sie lächelte, dass es Kai die Füße wegzog. Er verliebte sich, schon während er ihre Bauchdecke abtastete, und ihr ging es offensichtlich genauso. Nana und Kai wurden ein Paar. Ein perfektes Paar. Nana interessierte sich – genau wie Kai – für Medizin, sie begann ihr Studium, als er gerade im zehnten Semester war. Sie konnten über Professoren lästern, über Dozenten herziehen, über Karrierepläne und Gesundheitspolitik diskutieren. In ihrem CD -Regal fand er seine Lieblingsmusik, sie lieh sich seine Bücher aus und gab sie ihm begeistert zurück, sie hatte denselben Brotaufstrich im Kühlschrank, sein Shampoo stand in ihrer Dusche, und beide wollten ihren ersten gemeinsamen Urlaub auf La Gomera verbringen. Kai freute sich darauf, denn Nana wollte – wie er – vor allem wandern und die Natur erkunden. Sie wollte – wie er – mit dem Rucksack anreisen und alles auf sich zukommen lassen. Bloß kein All-inclusive-Urlaub, sagte sie. Das sei nichts für sie. Traumfrau, dachte Kai damals. Was für eine Traumfrau!
Sie flogen nach Teneriffa und nahmen die Schnellfähre zur Insel. Sie
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