Luderplatz: Roman (German Edition)
auch unbehaglich fühlte.
Erst einen Tag später begriff er, warum. Welch ungeheuerlicher Verdacht auf ihm lastete. Nana Oppenkamp hatte Kai Westmark der schweren Misshandlung und Vergewaltigung beschuldigt, und der Arzt, den sie aufsuchte und der ihre Verletzungen dokumentieren sollte, war Dr. Johannes Westmark. Kais Vater wusste, dass sein Sohn an diesem Nachmittag mit Nana verabredet war. Er wusste nicht, dass Nana seinen Sohn nach dem Ende ihrer Beziehung terrorisiert hatte, weil sein Sohn es niemanden erzählt hatte. Und er wusste nicht, ob er dieser Frau glauben musste, als sie ihm mit zitternder Stimme sagte: »Ich hatte solche Angst vor Kai.«
»Scheiße.« Viktoria stellte die leere Bierflasche vor ihre Füße.
»Das trifft es.« Kai fuhr sich mit den schwarzen Händen durch die blonden Haare, die nun dunkle Strähnen hatten. »Ich weiß nicht, wie sie das angestellt hat. Sie sah wirklich übel aus …«
»Ich weiß. Ich habe die Bilder gesehen.«
»Sie hat mich angezeigt.«
»Noch mal Scheiße.«
»Doch sie kam damit nicht durch. Ein Nachbar meiner Eltern konnte bezeugen, dass ich schon um 16 Uhr vom Luderplatz weggegangen bin. Er war dort mit seinem Kombi unterwegs und hatte mich sogar gegrüßt. Er hat auch Nana noch gesehen. Quietschfidel und unverletzt sei sie kurz nach mir aus dem Unterstand herausgekommen und habe sich auf den Weg Richtung Westbevern gemacht.«
»Ein guter Zeuge, euer Nachbar.«
»Ein neugieriger Kerl – aber in diesem Fall mein großes Glück. Nachdem er mich gesehen hatte, war ich direkt im Gasthaus König und danach bei uns zu Hause. Meine Mutter konnte das bezeugen und halb Westbevern dazu. Alle hatten gesehen, wie ich mein altes Kinderzimmer Stück für Stück auf den Bürgersteig getragen habe.«
»Ja, Ordnung ist das halbe Leben«, versuchte Viktoria einen Scherz.
»Das sagt gerade die Richtige.« Kai lächelte ein bisschen, auch wenn er sonst noch ganz ernst wirkte.
»Sie hat dich also angezeigt?«
»Ja. Und dafür habe ich sie wirklich gehasst. Kannst du dir vorstellen, was hier los ist, wenn so was die Runde macht? Jeder, wirklich jeder hat darüber geredet. Für mich war es okay. Ich konnte wieder nach Hamburg fahren, und die Polizei hatte ja zum Glück schnell kapiert, dass ich gar nichts damit zu tun haben konnte. Aber meine Eltern …«
Viktorias schwieriges Himmelspuzzle fügte wieder ein paar Teilchen zusammen. Die bösen Hassmails von Kai, sie waren sein Versuch, sie loszuwerden. Sie konnte ihn verstehen. Sie konnte es verstehen. Nana Oppenkamp hatte sich wie eine Teufelin aufgeführt.
»Für mich war sie danach tot«, sagte Kai. Viktoria konnte nur noch einen Umriss von ihm erkennen. Der Himmel war jetzt in tiefem Dunkelblau gestrichen.
»Ich habe nicht mehr über sie nachgedacht, nicht mehr über sie gesprochen, nicht mehr nach dem Warum gefragt. Es ging mir besser damit.«
Viktoria knibbelte mit ihren Fingernägeln am Etikett der leeren Bierflasche. Nana Oppenkamp war also eine Stalkerin gewesen, und Kai Westmark war ihr Opfer. Das erklärte vieles. Wie hatte Mario es formuliert? »Victory, sie ist besessen von dir!«
»Wusste sie von …«, Viktoria zögerte, »… uns?«
Kai zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Weiß nicht. Viel gab es da ja nicht zu wissen.« Viktoria fröstelte, die einzige Farbe am Himmel war Schwarz. Sie dachte an die Nacht, in der sie Kai Westmark zum ersten Mal geküsst hatte. Und an ihren ungelenken Tanz auf dem Schützenball, an ihren traurigen Abschied und die fröhlichen Mails, die sie sich danach geschrieben hatten. Viel gab es da ja nicht zu wissen? Jetzt wusste sie wenigstens, was er empfand. Sie stellte die Flasche ganz vorsichtig auf die Treppe und wollte aufstehen. Sie würde jetzt gehen.
»Vielleicht hat meine Schwester ihr von … von uns erzählt.«
Viktoria blieb sitzen.
»Sie war früher mit ihr in einer Klasse und hatte immer Mitleid mit ihr. Und sie hat sie ein paar Wochen nach dem Schützenfest getroffen.«
Viktoria versuchte, klar und sachlich zu analysieren. Würden ein paar Küsse auf dem Schützenfest reichen, um Nana so eifersüchtig zu machen, dass sie nach Berlin gehen, ein Praktikum beginnen, Mario verführen würde – all das, um an Informationen über ihre Konkurrentin zu kommen?
»Meine Schwester hatte den Eindruck, dass es Nana ganz gut ging. Sie hätte einen Freund, hat sie gesagt. Und wie ich sie kenne …« Er stand plötzlich auf und trat von einem Bein aufs andere. »Hat sie ihr
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