Luderplatz: Roman (German Edition)
suchten sich ein billiges Apartment und taten jeden Tag vor allem zwei Dinge. Sie hatten Sex und wanderten. Ich bin im Paradies, dachte Kai. Und Nana ist meine Eva.
Er wusste nicht mehr, wer die Idee zuerst hatte. Doch auf einmal war sie da. Sie wollten sich eine Tätowierung stechen lassen, die sie für immer miteinander verbinden würde. Warum nicht? Gab es eine bessere Frau? Gab es einen besseren Ort?
Doch die Motive beim Tätowierer waren ihnen zu kitschig, zu modisch oder einfach zu beliebig. Kai hatte sein Notizbuch im Rucksack. Auf dessen Deckel war der vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci abgebildet. Die Proportionenstudie eines Mannes, das Symbol für Wissenschaft und Medizin. Sie zeigten es dem Besitzer des Tattoo-Studios, und der sagte: »Si, no problemo.« Das Bild zu teilen, das war ihre Idee gewesen.
»So müssen wir immer zusammenbleiben«, hatte sie gesagt und ihn angelacht.
»Nur so ist das Bild ein Ganzes.« Er hatte genickt. Hätte er damals den Kopf geschüttelt, vielleicht würde Nana heute noch leben.
»Willst du ’n Bier?« Kai war fertig. Die Kette lag wieder auf den Zahnrädern. Das Fahrrad stand wieder richtig herum. Er schob es in den Carport, kam mit zwei kühlen Flaschen wieder, setzte sich neben Viktoria auf die Stufen und öffnete die Flaschen mit seinem Feuerzeug. Die Sonne war nicht mehr zu sehen, doch es war noch nicht dunkel. Viktoria spürte die Wärme, die von der Häuserwand auf ihren Rücken strahlte. Kai nahm einen Schluck und war wieder in seiner eigenen Vergangenheit.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, fand er die salzigen Heringe bei ihr. Es war lächerlich, eine Lappalie – und doch änderte sich dadurch alles. Kai hatte eigentlich nur nach der Sonnenmilch gesucht, während Nana unter der Dusche stand. Weil sie die Flasche beim Wandern im Rucksack getragen hatte, öffnete er die kleine Seitentasche. Unter der Creme lag eine Tüte mit salzigen Heringen. Die Tüte war angebrochen, der Geruch der Lakritze stieg Kai in die Nase. Er hasste diese Süßigkeit, und Nana hasste sie. Dachte er zumindest. Das hatte sie ihm erzählt. Und sie hatten gemeinsam darüber gelacht, wie ekelhaft Lakritze im Allgemeinen und salzige Heringe im Speziellen seien. Wieder eine Gemeinsamkeit. Eine nette, kleine Gemeinsamkeit. Er fand es unwichtig.
Jetzt fand er es irritierend. Hatte Nana ihn angelogen? Konnte man bei so einer Nichtigkeit wie einer Vorliebe für Süßigkeiten überhaupt von Lüge sprechen? Er schob die Tüte zurück in ihren Rucksack und behielt die Sache für sich.
Doch es blieb nicht bei dieser einen kleinen Schummelei. Es waren viele kleine Schummeleien, bei denen er sie plötzlich ertappte. Und er begann, sie zu testen, fragte sie nach den gemeinsamen Lieblingsbüchern. Sie kannte den Inhalt – grob, aber mehr auch nicht. Als sie wieder in Münster waren, beobachtete er sie, wenn sie im Kino saßen und sie beinahe einschlief. Nachher erklärte sie ihm, dass sie den Film genauso spannend gefunden hätte wie er. Wollten sie essen gehen, blieb er vor der Eingangstür zum Italiener stehen und verkündete, dass er irgendwie viel mehr Lust auf Chinesisch hätte. Und sie lachte und fand auch, dass chinesisches Essen ihr jetzt irgendwie viel besser schmecken würde.
Er wusste, sie tat alles für ihn. Und das war ihm zu viel.
Als er ihr zu erklären versuchte, dass er nicht wollte, dass sie seinetwegen ihr Verhalten und ihre Vorlieben änderte, dass er es durchaus ertragen könnte, wenn sie eine andere Meinung als er hätte, wurde es noch schlimmer. Sie klammerte sich an ihn.
Sie log noch auffälliger. Sie wollte immer öfter mit ihm schlafen. Er ertrug es nicht. Er zog sich zurück. Er machte Schluss.
Und sie tat, was sie die ganze Zeit über getan hatte. Sie baute sich ihre eigene Wahrheit zurecht. Und in ihrer eigenen Welt waren sie noch ein Paar. Ein perfektes Paar. Das Tattoo war schließlich da, der Beweis ihrer unendlichen Liebe.
Sie rief ihn an. Mehrmals täglich. Irgendwann legte er auf, ohne etwas zu sagen. Zu oft schon hatte er ihr erklärt, dass es keinen Sinn hatte. Zu oft schon hatte er sie getröstet. Versucht, ihr auf nette Weise klarzumachen, dass es nichts mehr zu sagen gab. Zu oft schon hatte sie nichts von dem begriffen, was er ihr begreifbar machen wollte.
Er wechselte die Schlösser seines kleinen Apartments mit dem schönen freien Blick über den Aasee aus, weil sie dort auf ihn gewartet hatte. Dreimal. Einmal hatte sie für ihn gekocht,
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