Luegen auf Albanisch
Wetter schlecht war. Sie erzählte Mister Stanley nicht, dass der Olds einmal in eine Schneewehe gerutscht war und sie ihn mit Zeke hatte ausgraben müssen, wobei sich Lula die Stiefel ruiniert hatte. Es würde schon schwer genug sein, zu erklären, dass sie am Weihnachtsabend ausgehen wollte und Mister Stanley und Zeke am Jahrestag von Gingers Verschwinden allein ließ.
Sie wartete einen Samstagnachmittag ab. Zeke war mit Freunden unterwegs. Weihnachtseinkäufe, hatte er gesagt. Lula fand Mister Stanley im Wohnzimmer beim Lesen der Wochenendbeilage der Sonntagszeitung. Die Nachrichten von morgen für heute. Er trug seine Chinos, eine Strickjacke und ein Strickhemd, und er schaffte es, darin noch steifer und unbehaglicher auszusehen als in seinem Anzug. Er sah wie Mr. Rogers aus, der erste Amerikaner, den Lula je auf dem eingeschmuggelten Fernseher ihrer Großmutter gesehen hatte.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte Lula.
Mister Stanley sagte: »Ich habe eine verrückte Idee. Lassen Sie uns spazieren gehen.«
»Zu verrückt«, sagte Lula. »Draußen ist es kalt.«
»Die Luft tut einem gut«, sagte er. »Sie verwandeln sich noch in Dracula, eingesperrt in diesem dunklen Haus.«
Eine witzige Bemerkung für den Vater eines Vampirsohns. Er machte einen Mister-Stanley-Witz. Versuchte hilfreich zu sein.
»Ha, ha«, sagte Lula. »Okay, ich hole meinen Mantel.« Draußen zeigte sie anklagend auf die Atemwölkchen, die sie ausstießen.
»Nur um den Block«, sagte Mister Stanley. »Wir werden schon nicht erfrieren.«
Lula und Mister Stanley hatten die Straßen für sich, wenn man die überdimensionierten Plastikrentiere und Sternsinger auf den Rasen der Nachbarn nicht mitzählte. Hin und wieder kam ein Auto vorbei, doch keines drosselte das Tempo für die beiden, die von Haus zu Haus schlenderten und stehen blieben, um die Weihnachtsdekoration zu bewundern, von der jede, wie Lula mürrisch dachte, genug Strom für ganz Albanien verbrauchte. Aber es waren bestimmt nur schwache Birnen. Warum konnte sie den harmlosen amerikanischen Brauch nicht einfach genießen, statt sofort diesen abschätzigen Immigrantenneid zu entwickeln? Weil die Dekoration dazu gedacht war, Außenstehende neidisch auf die drinnen herrschende Freude zu machen.
Ganz egal, was Lula über das amerikanische Familienleben erfahren hatte, sie sehnte sich immer noch danach, an einem dieser Familienausflüge zu den großen Einkaufszentren teilzunehmen, um die Dekorationen einzukaufen, wobei Dad und Junior den fröhlichen kreativen Vorschlägen von Mom und Schwesterherz folgten. Während des Kommunismus hatte zu den wenigen ausländischen Texten, die sie lesen durften, eine Übersetzung von Hans Christian Andersens »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern« gehört, das als Veranschaulichung der Klassenbrutalität des Westens diente. Lula hatte es genau wie alle anderen geglaubt. Aber in ihrem neuen amerikanischen Leben hatte sie etwas über Abstufungen, Nuancen gelernt. Mister Stanley stammte aus derselben Schicht wie die Wohnzimmer, in die sie blickten. Ein alternativer Titel für ihre Erinnerungen könnte Ein Einblick von außen sein.
Als Mister Stanley vor einem Plastikschlitten in der Größe eines Lastwagenanhängers stehen blieb, sagte Lula: »Ich muss Ihnen etwas erzählen. Ich werde den Weihnachtsabend nicht mit Ihnen und Zeke verbringen. Wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Natürlich habe ich nichts dagegen«, antwortete Mister Stanley zu schnell. »Also. Was machen Sie stattdessen?«
»Ich gehe aus«, sagte Lula. »Mit Freunden.« Sollte Mister Stanley fragen, mit welchen Freunden, würde sie sagen, Freunde aus dem La Changita.
»Das freut mich aber«, sagte Mister Stanley. »Wir möchten, dass Sie ein eigenes Leben haben.« Er ging zum nächsten Rasen voraus, auf dem eine Krippe mit einem lebensgroßen Kamel stand, dessen Gips so abgebröckelt war, dass es aussah, als wären bei einem Kampf Fleischbrocken herausgerissen worden.
»Es sollte keine Rolle spielen«, sagte er. »Ich glaube, Zeke würde es nicht das Geringste ausmachen, wenn wir das mit dem Baum und dem Schmücken und der Festfreude ließen.«
Festfreude? Hatte Mister Stanley vergessen, dass er im letzten Jahr einen toten Baum angeschleppt hatte und sie Weihnachten im Einkaufszentrum verbracht hatten?
»Sind Sie sicher?«, fragte Lula.
»Ich weiß nicht«, sagte Mister Stanley.
Lula sagte: »Als Religion während der Diktatur verboten wurde, haben die Menschen trotzdem
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