Luegenprinzessin
dass Kinga in ihrer Clique nicht den gleichen Stand hatte wie die beiden anderen, eher so, als wäre sie nur das Beiwagerl. Und vor allem hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Kinga auch gar nicht so sein wollte wie Quen und Amelie. Dass sie die beiden zwar brauchte, um einen gewissen Rückhalt in der Klasse zu haben, aber dass sie in Wahrheit nichts mit ihren sogenannten Freundinnen anfangen konnte. Hatten wir anderen ihr überhaupt jemals eine Chance gegeben? Eigentlich hatte ich erst in den letzten Tagen angefangen, sie als eigenständige Person wahrzunehmen. Was, wenn sie sich dafür rächen wollte? Wenn sie in Joe eine Verbündete gefunden hatte und beide zusammen uns nun die Hölle heißmachen wollten? Wenn ich es mir genau überlegte, traute ich es Joe mehr und mehr zu, dass sie die Psychofrau war und Kinga so etwas wie ihre Helfershelferin. Joe strahlte eine natürliche Autorität aus und eine Selbstsicherheit, mit der sich jemand wie Kinga bestimmt schnell einfangen ließ.
»Hast du nachher kurz Zeit?« Ich zuckte zusammen. Felix schüttelte den Kopf. »So schreckhaft? Ach ja, hab ich glatt vergessen, hinter dir ist ja die Psychofrau her. Oder war es der Beinschleifer?«
Ich schaffte es, mich nicht aufwiegeln zu lassen. »Für was brauch ich denn nachher kurz Zeit?«
Kam es mir nur so vor oder färbte sich seine Stirn wirklich rot.
»Nur so. Ich muss was mit dir besprechen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar.«
Die Frage, die Vero am Morgen ausgesprochen hatte, ging mir durch den Kopf: Was macht dieses Monster aus uns?
Verstohlen blickte ich Felix von der Seite an. Würde unsere Freundschaft je wieder so werden, wie sie noch vor drei Tagen war? Was war wirklich schuld an der permanenten Gereiztheit, die zwischen uns herrschte? Unsere vollkommen unterschiedlichen Reaktionen auf die Attacken? Oder hatte es doch etwas damit zu tun, was neulich am Fluss zwischen uns gewesen war? Wenn überhaupt jemals etwas zwischen uns gewesen war? Jetzt war es an mir, rot zu werden. Rasch wandte ich mich ab.
»Mutigen Sprung gewagt, nimmer gewinnt, wer zagt. Schnell ist das Wechselglück, dein ist der Augenblick. Wer keinen Sprung versucht, bricht keine süße Frucht. Auf! Wer das Glück erjagt, mutigen Sprung gewagt.«
Chris schüttelte den Kopf. »O. k. Die Frage ist beantwortet. Er versteht nicht, was er da sagt.«
Mr Bean, der keine Ahnung von dem Urteil hatte, das Chris soeben über ihn gefällt hatte, sagte treuherzig: »Diesen wunderschönen Vers von Ludwig Rellstab –«
Ich bekam nicht mit, was mit dem Vers war, denn Felix flüsterte für meinen Geschmack etwas zu laut: »Wetten, der kennt diesen Rellstab gar nicht, sondern hat heute Morgen nur schnell die Worte Klettern und Sprichwort in Google eingegeben.«
»So, nichtsdestotrotz ist es mir, insbesondere nach den Ereignissen der letzten Tage, wichtig, dass dieses Brückenseil… ähm… jumping keine, ich betone: kei-ne Mutprobe darstellt. Es springt heute nur, wer das auch wirklich möchte. Niemand, der sich dagegen entscheidet, wird dazu überredet oder gar ausgelacht. Haben das alle, aber auch wirklich alle verstanden?«
Keiner zeigte eine großartige Reaktion, doch ich war froh über Bieningers Worte. Am liebsten wäre es mir ja gewesen, meine Freunde würden darauf verzichten. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie die Psychofrau einen Unfall hier bewerkstelligen wollte, doch in den letzten Tagen war so viel passiert, was ich nicht für möglich gehalten hätte, dass ich mit allem rechnete.
David und Joe diskutierten gerade – auf eine sehr neckische Weise –, wer von ihnen als Erster sprang, was mich etwas beruhigte, denn falls Joe die Psychofrau war, würde sie wohl kaum selbst freiwillig in den Tod springen wollen. Wütend wünschte ich meine Schulterverletzung zum Teufel. Unter anderen Umständen hätte ich mich jetzt da durchgedrängt, einen Mr Bean vom Stapel gelassen: »Wenn sich zwei streiten, freut sich die Dritte«, und mich mit lässigem Winken todesmutig in die Tiefe verabschiedet.
Es stellte sich bald heraus, dass ich nicht die Einzige war, die unbedingt ihren Mut unter Beweis stellen wollte. Denn ganz egal, was Mr Bean uns vorhin zu sagen versucht hatte, fast alle Jungs und immerhin vier der Mädchen kämpften um das Vorrecht, den allerersten Sprung machen zu dürfen. Als wäre dieser der einzige, der wirklich zählte, während alle anderen lediglich als Nachahmung betrachtet wurden. Vielleicht weil wir kürzlich im Unterricht
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