Luegensommer
ihn nur zu denken. Er nimmt Gestalt an.
Als Marit übel wird, muss sie an den Wodka denken, an die Milch, den Rotwein, die Pizza – und an das Flugblatt – und sie kann nicht verhindern, dass sich ihr der Magen umdreht. Sie übergibt sich zwischen grauen, alten Grabsteinen, anschließend ergreift sie die Flucht, rennt, so schnell sie kann. Vorbei an noch mehr Flugblättern – Zoés Freunde haben ganze Arbeit geleistet – und Spaziergängern mit Hunden. Ihre Schritte hallen, der Atem geht keuchend. Männer von der freiwilligen Feuerwehr sind damit beschäftigt, die grün-weißen Girlanden für das Schützenfest anzubringen. Jemand erkennt sie, ruft ihren Namen. Marit rennt weiter, ohne sich umzudrehen.
Endlich die gelbe Leuchtsäule der Tankstelle. Super 1 , 45 . Jans schäbiger Polo parkt neben der Einfahrt zur Waschstraße. Gott sei Dank. Marit merkt, wie ihr die Tränen kommen, und versucht erst gar nicht, sie zurückzuhalten. Der Verkaufsraum ist klimatisiert und angenehm kühl, beinahe kalt. Jan steht an der Kasse, das Namensschild, das ihn als Herrn Gerlach ausweist, am Pulli, und rückt einem Kunden das Gerät für die Kartenzahlung zurecht. »Die Geheimzahl bitte.«
Er ist so in seine Arbeit vertieft, dass er Marit erst bemerkt, als sie sich ihm um den Hals wirft.
»Hey, was machst du denn hier?«
Unfähig zu reden, vergräbt sie sich in Jans Umarmung. Wie immer weiß er, was sie braucht, und hält sie fest.
»Ist ja gut«, flüstert er. »Alles gut.« Sein Atem kitzelt ihr Ohr und riecht nach Kaugummi.
Als sei sie für ihn unsichtbar, verlangt der Kunde mürrisch nach dem Kassenbon, worauf Jan sich von ihr löst, um den Mann abzufertigen. Marit betrachtet ihn verstohlen dabei, wie er die Zahlen auf dem Bon kontrolliert, und ist erleichtert, als er ihr nicht bekannt vorkommt. Weil ihre Eltern im Dorf zu den tonangebenden Persönlichkeiten zählen, hat sie manchmal das Gefühl, unter ständiger Beobachtung zu stehen.
Endlich sind sie allein. Jan legt den Arm um ihre Schultern. »Was ist los?«
Marit heult weiter, sie kann nicht anders.
»Marit, jetzt sag schon, was los ist. Bitte.«
Will sie ja. Deswegen ist sie hier, um zu reden. Doch es ergeht ihr wie zuvor Hark Jansen im Martini. Was sie zu sagen hat, ist zu scheußlich, um es ohne Weiteres über die Lippen zu bekommen. Also fängt sie, nachdem die Tränen endlich versiegt sind, mit etwas vergleichbar Harmlosem an: »Ich habe auf den Kirchhof gekotzt.«
»Bist du betrunken?«, fragt Jan, hält sein Gesicht dicht vor ihres und gibt sich die Antwort gleich selbst: »Du bist betrunken.«
Marit widerspricht, wenngleich ihr bewusst ist, wie maßgeblich der für sie erhebliche Alkoholkonsum zu ihrem jämmerlichen Zustand beigetragen hat.
»Was genau hast du getrunken?«
»Wodka. Zum Schluss.«
»Wodka«, wiederholt er gedehnt. Jan ist mit Alkohol noch zurückhaltender als sie. Marit glaubt, die Wirkung ist ihm unheimlich. Als er klein war, gab es eine Zeit, in der Ella, seine Mutter, getrunken hat. Das hat er ihr auf einer Party beiläufig erzählt, als es eine Diskussion um ein ihrer Meinung nach harmloses Trinkspiel gab, an dem sie teilnehmen wollte, er aber nicht. Später versuchte sie auf das Thema zurückzukommen, doch er war nicht bereit, darüber zu reden. Er sei froh, dass es vorbei ist. Seine Mutter habe die Kurve gekriegt, und gut.
»Warum hast du Wodka getrunken? Den magst du doch gar nicht.«
Marit beißt sich auf die Unterlippe, schaut auf das Kühlregal mit Erfrischungsgetränken und pappigen Sandwichs und hofft auf neue Kundschaft, um Zeit zu gewinnen. Ihr Blick wandert nach draußen. Nichts los an den Zapfsäulen. Wenn die Autos von der letzten Fähre durch sind, ist auf der Dorfstraße meistens tote Hose. Trotzdem bleibt die Tankstelle im Sommer bis Mitternacht geöffnet. Die letzte Fähre. Ob der Betrieb eingestellt wurde, nachdem …?
Marit atmet durch und fängt an zu reden. Wie bei Hark dauert es lange, bis sie zum Punkt kommt, und als sie fertig ist, hat auch Jan Tränen in den Augen.
Fremdeinwirkung
Mütter. Deine führt sich auf, als hätte sie dich abgöttisch geliebt, als wäre nicht alles andere immer wichtiger gewesen – die Bilder, dein Vater, ihre ganzen Freunde aus der Stadt, die ihr tagein, tagaus erzählen müssen, wie begnadet sie ist, damit sie nicht wieder depressiv wird. Und meine? Kann es einfach nicht lassen, sich und mir einzureden, ich sei ein anständiger Junge. War ich ja auch. Bis wir uns
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