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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Hand, wendet sich Hilke Pauli ihrer Tochter zu: »Ganz einfach. Schau dich an, wie du mit dir und deinem Leben zurechtkommst, und dann schau dir Ansgar an, sein Chaos, seine Probleme. Da fragt man sich als Mutter automatisch, was verkehrt gelaufen ist. Woran hat es dem Jungen gefehlt, fehlt es ihm vielleicht noch immer?« Sie fuchtelt mit Alufolie vor Marits Nase herum. »Denn in dieser Hinsicht hast du völlig recht, Mütter fühlen sich ständig schuldig. Keine Ahnung, warum das so ist, vermutlich genetisch bedingt. Und da ist es nicht hilfreich, wenn auch noch Außenstehende mit dem Finger auf sie zeigen.«
    »Hab ich ja gar nicht.« Marit ist es allmählich leid, grundlos heruntergeputzt zu werden. Offensichtlich hat sie einen wunden Punkt berührt. Das kommt überraschend. Ihre Mutter und Schuldgefühle? Ausgerechnet Hilke Pauli, Kirchenvorstandsmitglied und jahrelang Vorsitzende des Schulelternrats, eine merkwürdige Vorstellung. Marit ist überzeugt: Ihr Bruder hatte die gleichen Chancen wie sie, etwas aus sich zu machen – und er hat sie vertan. Zumindest fürs Erste, noch ist schließlich nichts verloren. Wie oft plaudern berühmte Leute im Fernsehen darüber, dass sie in der Schulzeit die größten Flaschen waren. Irgendwann wird er sich schon zusammenreißen.
    Tage verstreichen. Ein DNA -Abgleich ergibt zweifelsfrei, dass das Auge, das auf der Autofähre gefunden wurde, von Zoé stammt. Marit erfährt es aus dem Radio: keine Überraschung, aber trotzdem niederschmetternd.
    Zwei Dorfpolizisten tauchen auf, um Ansgar zu befragen, beide sind gute Bekannte ihres Vaters und wirken nervös. Wie zuvor die Eltern geben sie geduldig ihr Bestes, Ansgar zum Reden zu bringen. Er weiß nichts, da ist sich Marit inzwischen sicher. Er tut ihr leid.
    Dann das Schützenfest. Es wird über eine Absage diskutiert, man will nicht pietätlos erscheinen: ein Festumzug mit Pauken und Fanfaren, während ringsum die Einsatzkräfte ausschwärmen und eine Tragödie unaufhaltsam ihren Lauf nimmt, da meldet sogar der noch amtierende Schützenkönig Bedenken an, bekannt als unverwüstliche Frohnatur. Andererseits: Tragödien gibt es immer wieder – Sturmfluten, Feuersbrünste, Unglücksfälle –, sie treffen jedes Mal jemanden aus ihrer Mitte und gehören zum dörflichen Leben wie die Kirschblüte, die Stintsaison und eben das Schützenfest als Höhepunkt des Sommers. Ein buntes, fröhliches Ereignis besonders für die Kinder. Winfried Pauli, als Unternehmer gezwungenermaßen Mitglied im Schützenverein, gehört zu denjenigen, die sich für das Fest starkmachen. Am Ende findet fast alles statt wie geplant, nur auf das Feuerwerk zur Eröffnung wird aus Rücksicht auf Zoés Eltern verzichtet, was Marit nicht davon abhält, mit ihren Freunden über den Rummel zu schlendern. Wenn Jan schon mal Zeit für sie hat.
    Wieder so ein brütiger Abend ohne Wind, das Angebot an Vergnügungen überschaubar, wie jedes Jahr: Autoskooter, Schießbude, Kinderkarussell, ein paar Zuckerbuden, Bratwurst- und Bierstände. Mittendrin die Schützen in ihren jagdgrünen Joppen, die Würdenträger schwitzend unter der Last diverser Orden.
    »Gott, bin ich froh, wenn ich hier weg bin«, sagt Franka.
    »Und wir erst«, erwidert Hendrik, ihr Exfreund, aber ihm ist anzusehen, wie sehr er nach wie vor an ihr hängt. »Ohne dich wird es hier bestimmt richtig nett.«
    Marit findet, sie haben gut zusammengepasst, es hätte etwas Ernsthaftes daraus werden können, wären da nicht Frankas Australienpläne und ihr Wunsch, die weite Reise ohne den Ballast einer Beziehung anzutreten. Was sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen kann: Franka und Ansgar als Paar. Soweit Marit sich erinnert, sind die beiden nie gemeinsam irgendwohin gegangen, nicht mal ins Kino in der Kreisstadt.
    Autoskooter. Sie teilen sich paarweise auf. Jan ist kein Macho, es macht ihm nichts aus, seiner Freundin das Steuer zu überlassen, weil er weiß, sie spielt gern die Draufgängerin. Nach ihrer ersten gemeinsamen Fahrt vor zwei Jahren tat er so, als müsse er sich den Schweiß von der Stirn wischen, und nannte sie James Dean. Er steht auf den Hollywoodklassiker »Denn sie wissen nicht, was sie tun« und überhaupt so altes Zeug.
    Eine Weile ist alles wie letzten Sommer, sie sind ausgelassen, rempeln sich an und singen die Refrains der Musik mit, lauter Sommerhits. Damals lag noch ein ganzes Jahr Schule vor ihnen, kein schlechtes Gefühl: endlich an der Spitze der Hierarchie angelangt, die

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