Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
Vom Netzwerk:
Helene und sie, und eine Marlboro kreisen ließen, die immer wieder ausging. Da hat sie, den Glimmstängel zwischen den Lippen, jedes Mal die Luft angehalten.
    Nach einem besonders tiefen Zug drückt Hark die Zigarette aus und macht sich bereit, Marit sieht es ihm an. Als er fortfährt, ist seine Stimme rau und er spricht sehr leise, sie müssen sich vorbeugen, um überhaupt etwas zu verstehen.
    »Plötzlich lässt so ein Biest etwas fallen, genau vor meine Füße.« Er macht eine Pause. »Genau vor meine Füße, Mann. Ich beuge mich runter, um zu sehen, was es ist …«
    Marit versucht sich zu wappnen, meidet jeden Blickkontakt, fixiert stattdessen Harks Hände, den Schmutz unter seinen Nägeln, den verschorften Kratzer.
    »Was war es?«, flüstert Martini.
    »Ein Auge, Mann. Ein menschliches Auge und es war verdammt noch mal hellblau.«
    Es könnte ein schlechter Scherz sein, denkt Marit. Diese Art von Humor ist Hark Jansen durchaus zuzutrauen. Doch dafür bleibt er zu lange zu ernst, ebenso der Wirt. Martini ist versteinert, Hark ist versteinert, Marit trinkt ihren Wodka.
    »Hast du die Bullen gerufen?«, fragt Martini.
    »Nee, Mann, ich hab das Ding ins Wasser geworfen. Was denkst du denn, du Vollidiot, natürlich hab ich die Scheißbullen gerufen.«
    Es reicht, Marit hat genug gehört. Sie will nur noch raus hier.
    Obwohl sie einen leichten Schwindel verspürt, gelingt es ihr, das Lokal mit festen Schritten zu verlassen. Im Freien ist es kühler, das tut ihr gut, sie schafft es sogar, an den Tisch zu ihren verdutzten Freunden zurückzukehren, Franka zu bitten, ihre Rechnung zu übernehmen und sich mit dem Hinweis, sie wolle einen Spaziergang machen, zu verabschieden.
    Sie weiß, es erweckt einen komischen Eindruck, doch wie immer, wenn etwas über sie hereinbricht, das zunächst unbegreiflich ist – wie zuletzt die Tatsache, in der mündlichen Abiprüfung statt der für sie obligatorischen Eins, nur eine Zwei plus erreicht zu haben –, muss sie allein sein. Um sich auf die veränderte Wirklichkeit einzustellen.
    Die ersehnte Ruhe und Abgeschiedenheit findet sie kaum hundert Meter vom Martini entfernt auf dem Kirchhof, wo um diese Zeit – zur blauen Stunde zwischen Tag und Nacht – niemand mehr unterwegs ist. Die Backsteinziegel des gotischen Gemäuers haben die Wärme des Tages gespeichert und sondern mit ihr einen Geruch nach Ton, Mörtel und Staub ab, nicht unangenehm, beinahe tröstlich. Dazu der Duft von Lavendel, der in einem Beet beim Glockenturm blüht.
    Zoé ist tot. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Möwen sind Aasfresser. Egal wie aggressiv sie sein mögen – ein lebender Mensch kann sich gegen sie zur Wehr setzen oder fliehen. Jemand anderes? Hellblaue Augen sind selten. Und in der Gegend wird nur eine Person vermisst.
    Marit will diese Neuigkeit nicht glauben, deren Tragweite ihr die Luft abschnürt. Mit siebzehn stirbt man nicht, man fängt an zu leben.
    Zoé ist tot.
    Bald wird man sie finden, es ist bloß eine Frage der Zeit.
    Sie muss es Ansgar sagen, bevor er es von einem Fremden erfährt. Wer informiert die Eltern? Damit wäre sie überfordert, das kann nicht ihre Aufgabe sein. Der Pastor fällt ihr ein, zwar ist er jung und neu in der Gemeinde, doch ihre Mutter hält viel von ihm. Marit geht so selten in den Gottesdienst, dass sie seinen Namen nicht kennt. Ob Zoés Eltern Christen sind, weiß sie nicht und erscheint ihr auch nebensächlich. Hauptsache, es wird jemand gefunden, der sich mit so etwas auskennt. Die Vorstellung hat etwas Befreiendes.
    Marit umrundet die Kirche, rüttelt an der schweren Klinke des Hauptportals, probiert den Seiteneingang: beides verschlossen, wie zu erwarten war. Dennoch versetzt es sie dermaßen in Rage, dass sie sich selbst nicht wiedererkennt.
    »Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Sie malträtiert die Tür mit Tritten, wie zum Protest schlägt die Turmuhr zweimal und der Klang der Glocke lässt sie zusammenfahren. Halb elf.
    »Nie ist so ein Pfaffe zur Stelle, wenn man ihn braucht.«
    Mit einem Mal erscheint alles unwirklich: sie spätabends allein auf dem Kirchhof, Harks Stimme im Ohr, die Wärme des Backsteins, das Schummerlicht des verendenden Tages, ihr lächerlicher Ausbruch eben. Ein Teil von Marit will immer noch nicht wahrhaben, was geschehen ist. Der andere ist damit beschäftigt, der Bilderflut, die das Gehörte in ihrem Kopf entfesselt hat, keine Beachtung zu schenken.
    »Zoé ist tot.« Es macht einen Unterschied, den Satz auszusprechen oder

Weitere Kostenlose Bücher