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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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begegnet sind.
    A usnahmezustand. Fremde fallen ins Dorf ein und nehmen es in Beschlag wie eine feindliche Armee: Polizisten, mehrere Hundertschaften uniformierter Suchmannschaften, die Männer und Frauen haben Hunde dabei oder lange Stangen, mit denen sie im Unterholz herumstochern, der Gluthitze schonungslos ausgeliefert. Andere kommen über die Elbe mit Booten, auf denen Leichenspürhunde reglos mit hängendem Kopf im Heck stehen, die feinen Nasen so dicht wie möglich über der Wasseroberfläche. Am Anleger sind Taucher im Einsatz. Hubschrauber fliegen in niedriger Höhe den Schilfgürtel am Flussufer ab, das Hämmern der Rotorblätter zerrt allen an den Nerven. Nur für die Kinder, die barfüßig und braun gebrannt auf ihren Fahrrädern umherflitzen, um ja nichts zu verpassen, ist die Suche nach der toten Zoé ein großes Abenteuer.
    Nein, nicht nur für Kinder. Auch die Journalisten, lärmende Gefolgschaft der Einsatzkräfte, kommen auf ihre Kosten. Bislang ein blinder Fleck auf der Landkarte der Medienwelt, erregt nunmehr jeder Quadratzentimeter des Dorfes Interesse. Während eine Kolonne von Übertragungswagen mit Satellitenschüsseln auf den Dächern die grün-weiß geschmückte Hauptstraße blockiert, schwärmen sie aus, befragen junge Mütter auf dem Spielplatz, Arbeiter vor dem Tor der Eisfabrik und überrumpelte Rentner in ihren Gärten – »furchtbar das Ganze, man traut sich nachts kaum noch auf die Straße«; sie filmen und fotografieren beim Schlachter, beim Bäcker, vor dem Lebensmitteldiscounter, am Elbstrand und in der Kirche. Ebenfalls ein begehrtes Motiv: die Grundschule, obwohl Zoé sie nie besucht hat. Dass ihr Elternhaus, die Fähre und kreischende Möwen in keinem Beitrag fehlen, versteht sich von selbst. Das Leid einer Familie, eines ganzen Dorfes, aufbereitet als Unterhaltung. Zugegebenermaßen effektvoll. Marit wehrt sich dagegen, aber es gibt ein Zeitungsbild, das sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt, aufgenommen von ihrer Freundin Helene: Teelichter, rote Grabkerzen und Blumen auf dem Deck der Elbfähre, direkt neben den parkenden Autos, dazu rührselige Grußbotschaften an Zoé im Jenseits: »Wir werden dich nie vergessen.«
    Die Boulevardzeitungen schreiben bereits von Mord. So weit hatte Marit noch gar nicht gedacht. Viel wahrscheinlicher ist ein Badeunfall, ihrer Ansicht nach. Wer eine so große Klappe hat wie Zoé, legt sich bestimmt auch mit der Elbe an.
    »Ich frage mich, wie Frau Berger das noch lange durchstehen soll. Die Ärmste wird jeden Tag weniger«, sagt Hilke Pauli und rührt mit Marits Hilfe eine große Portion Nudelsalat mit Hähnchen für Zoés Eltern zusammen. Sie ist nicht die Einzige, der die Idee gekommen ist, ihnen regelmäßig Essen vorbeizubringen. Laut Marits Mutter ist es ein Kommen und Gehen, in der Küche des Künstlerhaushalts haben sich Tupperdosen und Schüsseln sämtlicher Nachbarn angesammelt. Weil man sonst nichts tun kann.
    »Hast du bemerkt, dass sie nur noch Schwarz trägt?«
    Marit zuckt mit den Schultern, obwohl sie Zoés Mutter ein paarmal in ihrer Trauerkluft gesehen hat. Sie denkt daran, was Ansgar erzählt hat, ihrer Meinung nach stellt es die Beweggründe für Frau Bergers Verzweiflung infrage. »Sie muss sich furchtbar schuldig fühlen.«
    »Wie kommst du darauf?«, fragt ihre Mutter ungewohnt scharf.
    »Na, weil sie Zoé vernachlässigt hat.«
    »Jede Mutter macht im Leben Phasen durch, in denen sie nicht so intensiv für ihre Kinder da sein kann, wie sie es selbst gern hätte«, sagt Hilke Pauli in einem belehrenden Tonfall, schmeckt das Dressing ab und lässt Marit kosten. Perfekt. Fast zu schade zum Verschenken.
    »Du nicht. Du warst immer für mich da«, erwidert Marit in der Annahme, ihrer Mutter damit eine Freude zu machen, doch sie erntet lediglich eine weitere Zurechtweisung: »Vergiss nicht, dass du auch noch einen Bruder hast.«
    Marit schweigt, verwirrt und ein wenig beleidigt. Als hätte Ansgar eine andere Behandlung erfahren als sie. Ihre Eltern waren immer auf Fairness bedacht, davon ist sie überzeugt.
    »Du kannst dir eine Portion Salat abfüllen, es ist genug da«, sagt ihre Mutter.
    »Oh ja, gern. Wie hast du das eben gemeint, das mit Ansgar?«
    »Nur so.« Sie wurstelt in einer Schublade herum, die Bewegungen unwirsch. Marit kann nicht sagen, ob sie wirklich aufgebracht ist oder nur des Themas überdrüssig. Egal, sie will sich nicht so leicht abspeisen lassen. »Mama! Jetzt sag doch mal.«
    Eine Rolle Alufolie in der

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