Luegensommer
liebsten erwürgen. Marit kommt nicht umhin, sich einzugestehen, dass die unbändige Wut, die scheinbar ohne Unterlass in ihm tobt, ihr Angst macht. Dennoch glaubt sie ihm.
Quälende Fragen
Sie hätten dich in der Stadt begraben sollen, diese Idioten. Jetzt hängst du hier fest, genau das, was du nie wolltest. Dafür dürfte die Trauerfeier in deinem Sinne gewesen sein: Nervenzusammenbrüche (deine Mutter, deine Oma), arge Musik (wofür deine Hamburger Freunde gesorgt haben) und literweise Tränen. Der Andrang war so groß, dass die meisten gar nicht mehr in die Kirche gepasst haben. Ach ja, und dein Vater soll total bekifft gewesen sein.
D ie Laube der Gerlachs ist klein und alt, aber aufgeräumt und peinlich sauber. Marit und Jan haben hier so viele Stunden verbracht, dass ihr jedes Detail vertraut ist: das verblichene Mintgrün des Cordsofas, die Kratzer und Trittspuren auf dem unebenen Linoleumboden, der bedenkliche Geruch, den die Herdplatten in der Kochnische bei Gebrauch entwickeln. Nach verkokeltem Gummi. Sie wünschte, Ella, Jans Mutter, würde aufhören, sich wegen alldem zu schämen. Man sieht es ihr an. Marit kennt diesen Gesichtsausdruck zur Genüge, die unausgesprochene Unterstellung, Marit würde insgeheim die Nase rümpfen, sobald irgendetwas nicht ihrem gewohnten Lebensstandard entspricht. Dabei mag sie die Laube, speziell das grüne Sofa, was natürlich seine eigenen Gründe hat. Die allerdings Ella nichts angehen, sondern nur Jan und sie und sonst niemanden auf der Welt.
Während sie eine Erdbeere nach der anderen von ihrem Strunk befreit, betrachtet sie Jan von der Seite und fragt sich, ob er auch gerade an ihre erste gemeinsame Nacht denkt: den Schneesturm draußen und die Hitze drinnen, da er so viele Kohlebriketts in den Werkstattofen gestopft hatte, dass selbst die Zugluft sich in einen warmen Wind verwandelte. Seine Haut auf ihrer. Wie das Sofa ächzte und er sich beide Knie an dem Cordbezug aufscheuerte. Das fanden sie beide urkomisch. Marit zwingt sich, ruhig ein- und auszuatmen. Wenn sie nicht aufhört, daran zu denken, muss sie wieder loslachen. Oder schlimmer: weinen. Aus Rührung, weil es so eine besondere Erinnerung ist und noch nicht lange her. Sie war gerade achtzehn geworden und weiß noch, wie sie sich fragte, ob sie je wieder so glücklich sein würde. In der Rückschau gewinnt diese Überlegung an Bedeutung, fast wie eine dunkle Vorahnung.
»So, das waren die letzten für dieses Jahr. Schade eigentlich«, sagt Ella mit einem Seufzen, und Marit muss sich erst sammeln, um zu begreifen, wovon sie redet: Die Erdbeerzeit geht zu Ende. »Tausend Dank für eure Hilfe, ihr zwei. Sonst wäre ich jetzt noch nicht fertig.«
»Haben wir gern gemacht«, antwortet Marit, was nur zur Hälfte stimmt. Jan wirkte vorhin eher entsetzt, seine Mutter im Schrebergarten zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich den freien Nachmittag anders vorgestellt. Beim Pflücken drehte er ihnen den Rücken zu und beteiligte sich mit keinem Wort an der Unterhaltung.
»Was hast du jetzt mit den ganzen Erdbeeren vor?«, fragt Marit.
»Die meisten werde ich wohl zu Marmelade verarbeiten. Aber ich kann euch gern ein Schälchen dalassen.«
»Das wäre super.«
Ella füllt ihnen eine großzügige Portion ab, den Rest verteilt sie auf mehrere Tupperbehälter. Marit beobachtet ihre flüssigen Bewegungen, die sie an Jan erinnern. Auch äußerlich sind Mutter und Sohn einander ähnlich: die grünbraunen Augen, das braunblonde Haar, schimmernd wie Cognac, besonders wenn die Sonne daraufscheint. Ella ist zwar keine Schönheit, aber eine ziemlich attraktive Frau Anfang vierzig, dabei klug und herzlich. Seit einem halben Jahr Assistentin des Geschäftsführers einer Bootswerft ganz in der Nähe, in der sie einst als Aushilfe begonnen hatte. Unerklärlicherweise ist sie Single, und zwar seit Jans Vater sie während der Schwangerschaft sitzen ließ. Dabei müsste sie nicht allein sein, könnte sich jemanden suchen und noch mal ganz von vorn anfangen. Jan hätte kein Problem damit, im Gegenteil, ihm würde das gefallen. Das glaubt er zumindest. Marit weiß, einerseits ist er es leid, dass seine Mutter nie ausgeht und sich einzig und allein auf ihn konzentriert. Andererseits ist nicht zu übersehen, wie sehr er an Ella hängt. Sofern sie ihn nicht gerade zum Erdbeerpflücken verpflichtet.
Ella ist bereit zum Aufbruch. »Dann werd ich mal. Ab nächster Woche gibt’s Kirschen.«
»Ich bin dabei«, kündigt Marit ihre
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