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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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verstummt und starrt Marit verwirrt an, als wisse er plötzlich nicht mehr, wo er sich befindet. Dann bricht er in Tränen aus, steht einfach da und schluchzt nur noch, das Gesicht in den Händen vergraben. Seine Schultern beben. Obgleich sie ihn nicht mag, hat Marit das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen, und als sie es nach kurzer Überwindung schließlich tut, bereut sie es sofort, da er an ihr hängt wie ein überdimensionaler Klammeraffe. Nachschub für ihre Albträume: Hardy Jespersens Schluchzen, der Geruch seines ungewaschenen Haares, ihr Gefühlschaos. Der Mann hat seine Tochter verloren. Was soll sie ihm sagen, damit er sich besser fühlt? Gibt es überhaupt Worte dafür?
    »Warten Sie, ich hole Ihnen ein Taschentuch«, stammelt Marit, macht sich los und flieht in die Küche, wo sie minutenlang in den Kühlschrank starrt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Als sie endlich mit einer Packung Tempo und einem Glas Wasser in die Diele zurückkehrt, hat Zoés Vater sich wieder im Griff und entschuldigt sich leise.
    Marit weiß nicht, was sie mit ihm anfangen soll. Er wirkt, als wolle er noch etwas loswerden, doch sie macht ihm nicht das Zugeständnis nachzuhaken.
    »Meine Frau möchte Ansgar auf der Trauerfeier nicht dabeihaben. Das wollte ich vorhin eigentlich sagen. Es tut mir sehr leid, du und deine Eltern, ihr seid natürlich willkommen. Also, wenn es nach mir ginge … Aber Rena, weißt du … Es ist nicht leicht für sie.« Er trinkt sein Glas leer, reicht es Marit zurück und schnäuzt ins Taschentuch. »Ich muss dann wieder. Bitte richte es Ansgar aus. Und sag ihm, ich glaube nicht, dass er … Ich kann’s mir nicht vorstellen.« Ohne den Satz zu beenden, flieht Jespersen ins Freie.
    Marit lehnt in der Haustür, das T-Shirt nass von seinen Tränen, und blickt ihm nach. So viel Leid. Hätte Ansgar das tatsächlich zu verantworten, wäre es beinahe undenkbar, sich nicht von ihm abzuwenden. Aber er war es nicht.
    »Er war es nicht!«
    Daran zu glauben, hält Marit aufrecht.
    Am nächsten Morgen verbirgt sich der Himmel hinter einem gelblichen Schleier, der auch die Gesichter gelblich erscheinen lässt. Alles wirkt auf beunruhigende Weise künstlich. Donnergrollen in weiter Ferne. Es ist windstill, dabei schwül und heiß, Insekten schwirren durch die Luft: Gewittertiere. Wer jetzt dumm genug ist, etwas Weißes anzuziehen, wird innerhalb weniger Minuten regelrecht befallen. Doch es trägt niemand Weiß an diesem Tag.
    Marit hat sich für ein knielanges, schwarzes Kleid entschieden, genau wie ihre Mutter, Ansgar und ihr Vater stecken in dunklen Anzügen, was bei ihrem Vater stattlich aussieht, während Ansgar ungefähr so viel hermacht wie ein Konfirmand. Die Kühnheit – oder vielleicht eher Dreistigkeit? –, Rena Bergers Bitte zu ignorieren und zu viert zur Trauerfeier aufzubrechen, lässt Marits Herz schneller schlagen, gleichwohl ist sie damit einverstanden. Die Diskussion am Vorabend war kurz und wurde letztlich von ihrem Vater entschieden, wie es in ihrer Familie üblich ist:
    »Ich gehe da hin. Mir doch egal, was Rena sagt. Ich gehe wegen Zoé hin.«
    »Das kannst du nicht machen, Ansgar. Du musst auf die Gefühle der Familie Rücksicht nehmen«, lautete die Meinung ihrer Mutter.
    »Auf meine Gefühle nimmt auch keiner Rücksicht.«
    Womit er recht hat, dachte Marit, hielt sich aber raus.
    »Wenn er nicht geht, ist es wie ein Schuldeingeständnis. Dann kann er gleich einpacken. Wir gehen alle.«
    Das letzte Wort behielt Marits Bruder: »Dafür brauche ich bestimmt nicht deine Erlaubnis.«
    Typisch. Die beiden sind wie Feuer und Wasser. Marit fand, Ansgar hätte es ruhig dabei bewenden lassen können. Nur dieses eine Mal.
    Als sie aus dem Geländewagen steigen, sind so viele Blicke auf sie gerichtet, dass Marit am liebsten Deckung suchen würde, als stünde sie unter Beschuss. Und doch geht sie weiter und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Der Andrang scheint kaum zu bewältigen, obwohl die Trauerfeier von der Friedhofskapelle in die wesentlich größere Kirche verlegt wurde. Das Portal als Nadelöhr. Die Menge umschließt sie und schiebt sich im Schneckentempo vorwärts, eine Lawine aus spitzen Knochen und teigigem Fleisch. Die Hitze, die Hitze – besonders die der anderen. Die Mischung der verdampfenden Parfüms. Marit spürt die schnellen Atemzüge ihres Hintermannes im Nacken, jemand rammt ihr seinen Ellenbogen in die Seite, ein anderer tritt ihr mit fester Sohle auf den Fuß,

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