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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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der nackt in einer Sandale steckt, es fehlt die Luft für einen Aufschrei. Während sie sich in das Kondolenzbuch am Eingang der Kapelle einträgt, hat sie das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
    Aber das passiert nicht, im Gegenteil. Marit ist sogar über die Maßen wach, die Sinne geschärft, als hätte sie bewusstseinserweiternde Drogen genommen. Nicht dass sie damit Erfahrung hätte, aber so stellt sie sich die Wirkung zumindest vor.
    Irgendwie stehen sie es durch. Das Getuschel der Nachbarn und Freunde hinter ihrem Rücken. Die Fragen der Journalisten, die ihre Kameras auf sie richten und denen sie keine Beachtung schenken. Die Predigt und die Grabreden. Sie schaffen es mühelos, Zoés Familie aus dem Weg zu gehen, indem sie in der Menge untertauchen, in dieser Hinsicht hat der Ansturm sein Gutes. Auch später auf dem Friedhof wimmelt es von Menschen.
    Obgleich sie sich aus unerfindlichen Gründen dafür schämt, heult Marit fast die ganze Zeit. Sie kommt nicht dagegen an. Es liegt an diesem Foto: eine großformatige Porträtaufnahme von einer lachenden Zoé, aufgestellt auf einer Art Staffelei neben dem liliengeschmückten Sarg. Sie kann nicht aufhören, es anzusehen, und je länger sie hinsieht, desto mehr kommt es ihr vor, als würde Zoé ihren Blick erwidern, auf eine unbekümmerte, verschmitzte Weise. Egal, ob sie Freundinnen waren oder nicht, Zoé war anders als alle anderen Mädchen, die Marit je kennengelernt hat: schöner, lebendiger, temperamentvoller. Unvorstellbar, dass diese ganze Energie nun einfach so verschwunden sein soll. Wohin? Darauf weiß auch der junge Pastor keine Antwort. Zumindest verrät er sie niemandem.
    Während der Beisetzung unter einer mehligen Mittagssonne klappen nacheinander Zoés Mutter und ihre Oma zusammen und müssen von irgendwelchen Angehörigen aufgefangen und gestützt werden, worauf Marit, krank vor Anteilnahme, so laut schluchzt, dass es auffällt. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, wie jemand den Kopf schüttelt, und sucht in den mehr oder weniger vertrauten Gesichtern ringsum vergebens nach Bestätigung. Stattdessen: Misstrauen. Als wäre sie unaufrichtig und zöge eine Show ab, eine schlechte dazu. Abgesehen von Jan und Ella und natürlich ihrer eigenen Familie scheint ihr jeder feindlich gesinnt, und das ist sie nicht gewohnt. Bislang ist es ihr immer vorgekommen, als hätte sie die natürliche Gabe, ihren Mitmenschen Wohlwollen und Respekt zu entlocken. Sie merkt, wie ihr Selbstwertgefühl schwindet, zerfasert wie ein mürber Fetzen Stoff, und sie zerrt auch noch daran herum, indem sie der Frage nachhängt, ob sie ihre ganze Souveränität der permanenten Anerkennung von außen verdankt. Braucht sie etwa ständig Beifall, um mit sich im Reinen zu sein? Völlig verunsichert weint Marit fortan mehr aus Selbstmitleid als aus Trauer.
    Bis Ansgar eine Hand auf ihren Arm legt. »Jetzt lass doch mal gut sein«, flüstert er. »Denkst du, Zoé hätte wegen dir auch nur eine Träne vergossen? Schau dir lieber ihren Alten an, dann hast du was zum Lachen.«
    Vorn am Grab hält gerade ein Lehrer aus ihrer Schule eine Ansprache, doch sie befinden sich zu weit weg, um etwas zu verstehen. Hardy Jespersen lauscht mit verschränkten Armen, ein seltsames Feixen auf den Lippen. Er sieht aus, als müsse er sich zusammenreißen, nicht loszuprusten. Da sonst niemand auch nur lächelt, ist nicht davon auszugehen, dass der Lehrer etwas Lustiges erzählt.
    »Was ist denn mit dem los?«, fragt Marit.
    »Sieht man doch. Der ist völlig stoned.«
    »Glaubst du echt?« In der Welt, in der Marit zu leben glaubte, gibt es keine Väter, die Marihuana rauchen, schon gar nicht auf einer Beerdigung. Nicht einmal einem schrägen Vogel wie Jespersen hätte sie das zugetraut.
    »Ich schwör’s dir«, sagt Ansgar und nimmt seine Sonnenbrille ab, um sich ein Gewittertierchen vom Lid zu pflücken, die Biester sind überall. Seine Augen sind gerötet, weshalb er sie schnellstmöglich wieder hinter den dunklen Gläsern verbirgt, unfähig oder unwillig, seine Empfindungen mit ihr zu teilen.
    Stirnrunzelnd wendet Marit den Blick von Jespersen ab, froh, sich gefangen zu haben, was nur mit Ansgars Hilfe möglich war, er hat sie abgelenkt. Dabei müsste sie eigentlich ihn trösten und nicht umgekehrt. Um das Gespräch in Gang zu halten, befragt sie ihren Bruder im Flüsterton zu allen möglichen Leuten, von denen sie annimmt, er könnte sie kennen: Jugendliche in schrillen Klamotten, wie sie richtig getippt hat,

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