Luegensommer
Zoés Freundeskreis aus Hamburg. Bei einem extrem auffälligen Typen mit Stirnpiercing und fast schulterlangen pechschwarz gefärbten Haaren, die ihm strähnig ins Gesicht hängen, verzieht Ansgar das Gesicht, als hätte sie ihm ein Glas Milch angeboten. Er verabscheut Milch. »Den vergisst du am besten gleich wieder.«
»Wieso?«
»Das ist Grischa. Der ist irgendwie – gestört.«
Böiger Wind kommt auf, treibt eine weitere schwefelgelbe Wolke vor die Sonne, was das Licht noch unwirklicher werden lässt, sepiafarben und körnig. Die Trauernden als kränkliche, dunkle Gestalten mit gelblich fahler Hautfarbe. Der Schwarzhaarige in seinem rissigen Ledermantel erinnert an eine Krähe.
»Grischa, was ist das denn für ein Name?«, fragt Marit und überlegt, ob das Piercing – zwei in etwa erbsengroße Kugeln oberhalb des Nasenbeins – von der hässlichen Narbe unter dem linken Auge ablenken soll.
»Keine Ahnung. Ich sag doch, vergiss den Kerl, Marit. Der ist kein Umgang für Mädchen wie dich.«
Mädchen wie sie? Marit kann sich ungefähr vorstellen, was Ansgar damit meint. Bevor sie nachhaken kann, tippt Jan ihr auf die Schulter und legt den Finger auf die Lippen. Okay, okay, sie stören. Er hat ja recht. Manchmal ist er wirklich ein richtiger Streber. Sogar noch schlimmer als sie.
Nachts hat der Wind sich gelegt und in Marits Zimmer ist es so drückend, dass sie aufsteht und sich ans offene Fenster stellt. Grillen zirpen. Kein Luftzug. Sie hat Kopfschmerzen, eine Nachwirkung der Heulerei am Nachmittag. Sie fühlt sich ausgetrocknet.
Im Dunkeln schleicht sie durch das stille Haus, verharrt an der Tür zum Elternschlafzimmer – bereit zu lauschen. Als nichts zu hören ist, geht sie in die Küche, trinkt Wasser aus dem Hahn und tritt schließlich hinaus in den Garten. Wie hell es im Freien ist. Der zunehmende Mond steht hoch über den Bäumen. Es ist warm und immer noch schwül, aber im Nachthemd gut auszuhalten. Das Thermometer an der Hauswand auf der Terrasse zeigt siebenundzwanzig Grad.
Marit schlendert über den Rasen. Den ganzen Abend war der Sprenger eingeschaltet, und sie genießt das Kitzeln des feuchten Grases unter ihren nackten Füßen. Auch die Stauden und Büsche sind ausgiebig gewässert worden, überall ist es feucht und dampft. Nahezu tropisch. Sie waren mal im Urlaub auf den Bahamas, da haben sich die Nächte so ähnlich angefühlt.
Ein schwacher Lichtpunkt unter der Linde, in deren weitverzweigten Ästen sie früher unermüdlich umhergeklettert ist, erregt Marits Aufmerksamkeit. Das Glimmen einer Zigarette. Reporter? Sie ist neugierig und zugleich ängstlich, bis sie beim Näherkommen ihren Bruder erkennt, der an den Stamm gelehnt auf dem Boden sitzt und raucht. Wie immer sieht er nicht aus, als würde er Gesellschaft brauchen, trotzdem bleibt sie vor ihm stehen, erleichtert, keinen Fremden vor sich zu haben. »Hey.«
»Hey. Alles klar mit dir?«
»Alles klar. Mir war bloß heiß da drinnen.«
»Mir auch. Hier ist es besser.« Er hält ihr eine Bierflasche hin. »Willst du?«
»Warum nicht?« Sie setzt sich zu ihm und trinkt einen Schluck, erstaunt, wie froh sie darüber ist, dass zwischen ihnen seit der Beerdigung offenbar Waffenstillstand herrscht. Eine brüchige, stillschweigende Übereinkunft. Auch wenn sie Ansgar liebend gern jede Menge Fragen stellen würde – über Zoé, ihre Freunde, über ihn selbst und die Probleme, in denen er steckt –, hält sie es für klug, zu schweigen, um den neuen Status quo nicht zu gefährden.
Das Bier ist eiskalt und schmeckt ihr. Marit will sich die Sterne anschauen, doch da sind keine: zu dunstig. Nur der Mond, hell und milchig. Ab und zu Wetterleuchten. Irgendwo drüben auf der anderen Elbseite in Schleswig-Holstein geht ein Gewitter nieder. Kein Donner. Das Flackern am Horizont: wie die Glut eines Kaminfeuers, das auflodert und wieder erlischt.
»Schön, oder?«, fragt Ansgar, zieht an der Zigarette und atmet gemächlich aus. Jeder Zug lässt sein Gesicht auf diabolische Weise aufleuchten. Als er ihr auch eine anbietet, lehnt Marit ab, wirft aber einen Blick auf die Packung. Lucky Strike – Zoés Marke.
»Superschön.« Marit muss an Jan denken. Normalerweise würden sie in so einer Nacht zusammen an der Elbe sitzen, vielleicht sogar schwimmen gehen, wenn die Strömung es zuließe. Auch Ansgar wäre jetzt logischerweise lieber mit Zoé zusammen, am Computer in irgendwelche rätselhaften Programmierungen oder Onlinespiele vertieft, völlig
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