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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Mutter von roten Flecken überzogen, das ihres Vaters gespenstisch blass.
    »Wer hat denn den Jungen jahrelang verhätschelt?«
    »Wer ist denn nie zu Hause?«
    »Du hast nie wahrhaben wollen, dass Ansgar nicht ganz richtig im Kopf ist.«
    »Wie willst ausgerechnet du das beurteilen? Als ob du dich je für ihn interessiert hättest.«
    Und so weiter und so fort. Salvenweise Vorwürfe. Als ob all das jetzt überhaupt eine Rolle spielen würde – was, wann und warum bei Ansgars Erziehung schiefgelaufen ist und wer die Schuld daran trägt.
    Sie versucht, sich Gehör zu verschaffen: »Könnt ihr das vielleicht später klären?«
    Keine Reaktion.
    Als ihre Mutter sich herablässt, ihren Vater einen selbstherrlichen Scheißkerl zu nennen – eine Wortwahl, die ihrem eigentlichen Wesen ebenso wenig entspricht wie der gellende Klang ihrer Stimme –, verlässt Marit resigniert den Raum und prallt mit Frau Buschke zusammen.
    »Ich habe nicht gelauscht.« Die Haushaltshilfe streckt beide Hände von sich.
    »Ja, ist klar«, spöttelt Marit.
    Sie streift durch das Haus, als könnten die aufgeräumten, frisch geputzten Zimmer ihr Auskunft über die vielen ungeklärten Fragen erteilen. Der Geruch von Frau Buschkes Bratkartoffeln, die niemand hat essen mögen, hängt noch in der Luft, dazu der würzig-scharfe Duft der Parkettpflege. Das Einzige, was Marit ansonsten auffällt, ist, wie selten ihr Bruder auf den gerahmten Familienfotos auftaucht, die sorgsam arrangiert im Treppenaufgang hängen. Nicht halb so oft wie sie. Wieso hat sie das früher nie bemerkt? Und was viel interessanter ist: Wollte er nicht fotografiert werden oder hat man ihn absichtlich ausgespart?
    Zehn Minuten. So lange dauert Jans gewerkschaftlich garantierte Pause in der Eisfabrik, wo er heute eine Zusatzschicht einlegt. Mehr Zeit bleibt Marit also nicht, um seinen Rat einzuholen. Sein Arbeitseifer provoziert sie noch mehr als sonst. Ein Wunder, dass er sich gestern für Zoés Beerdigung freigenommen hat. Merkt er denn nicht, wie sehr Marit ihn braucht, jetzt, da sich ihre vertraute Welt in Auflösung zu befinden scheint?
    Sie sitzen auf der Verladerampe für die Lastwagen in der Sonne. Das Gewitter hat sich verzogen, ohne für eine dauerhafte Abkühlung zu sorgen, der Himmel ist wieder blau. Kein Betrieb, sie lassen die Beine baumeln, Hitzeflimmern über dem Asphalt, die Stahltore blitzen. Man bräuchte eigentlich eine Sonnenbrille. Jan lutscht ein »Moonracer«, ein rot-grün-gelb gestreiftes, raketenförmiges Wassereis aus firmeneigener Produktion – nicht gerade ein Kassenschlager, aber sein absoluter Favorit. Es tropft, er muss sich beeilen, damit es ihm nicht wegschmilzt, vielleicht ist er deswegen nicht richtig bei der Sache.
    »Als ich klein war, gab’s bei uns nur ganz selten Eis. Ich weiß noch, wie mich die Vorstellung fasziniert hat, mich nachts in die Fabrik zu schleichen und mir den Bauch vollzuschlagen. Stapelweise Moonracer.«
    »Ach, deshalb hast du dich an die Tochter des Eisbarons rangemacht.«
    Er tätschelt mit der flachen Hand Marits nackten Oberschenkel, der in einer ausgefransten, abgeschnittenen Jeans steckt, ihrer Lieblingssommerhose. »Sag bloß, das wusstest du nicht?«
    »Nee, ich dachte, es wäre Liebe.«
    »Klar doch. Die geht ja bekanntlich durch den Magen«, sagt Jan und küsst sie lange und atemberaubend. Seine Zunge ist herrlich kalt und schmeckt nach Himbeeren und Waldmeister. Dazu das Stechen der Sonne auf ihrer Haut. Sie lässt sich von ihm befummeln, begierig, in das Fieber des Sommers abzutauchen, sich leicht und liederlich zu fühlen. Bis ihr wieder bewusst wird, dass sie sich auf dem Firmengelände ihres Vaters befinden, wo sie sich in nicht allzu ferner Zukunft als Juniorchefin behaupten will.
    »Jan, das reicht.« Sie befreit sich aus der Umarmung.
    Wie aus Trotz lässt er die Hand auf ihrem Bein liegen. Das Moonracer ist runtergefallen und nur noch eine giftig bunte Schmelzlache zu ihren Füßen.
    »Schade um das schöne Eis«, witzelt er.
    »Kannst du mal eben ernst sein, bitte? Ich hatte dir gerade erzählt, dass mein Bruder abgehauen ist. Du hast überhaupt nichts dazu gesagt.«
    Jan blickt auf seine Armbanduhr. »Meine Pause ist gleich vorbei.«
    »Das glaub ich jetzt nicht. Willst du dich drücken, oder was?«
    Schulterzucken.
    »Jetzt sag doch mal was.«
    »Sorry, ich bin gerade irgendwie überfordert.«
    Na toll. Willkommen im Klub. »Meine Eltern auch. Ich auch. Aber wir können doch nicht einfach so zur

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