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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Kopfschmerzen sind schlimmer geworden.
    Sie rappelt sich hoch, zieht die Kapuzenjacke an und hebt die Bierflasche und die leere Packung Luckys auf, wie es sich für eine gute Tochter gehört. Es müsste mal regnen, die Pflanzen fiebern. Die Linde bekommt bereits braune Blätter, andere Bäume haben begonnen, vertrocknetes Laub abzuwerfen, und das mitten im Juli. Sie widersteht dem Impuls, auf die Linde zu klettern, bis in die Krone, von wo aus sie die Eisfabrik sehen könnte. Ein weißgrauer Klotz, der das Dorf überragt, schmucklos bis auf das rot-blaue Firmenlogo an der Front. Hässlich. Wie eine überdimensionale Kühltruhe. Dennoch: Bereits als Kind hat sie der Anblick immer mit Stolz erfüllt.
    Drinnen schickt sie eine SMS an Jan und versucht, nicht enttäuscht zu sein, als sie keine Antwort erhält. Es ist zu früh. Er schläft. Sie überlegt, zu ihm zu fahren, sich neben ihn zu legen, ohne ihn zu wecken, verwirft den Gedanken aber, da sie keinen Schlüssel für die Wohnung seiner Mutter hat. Sie müsste klingeln. Also trinkt sie ein Glas Milch und legt sich noch mal ins Bett, das Kissen hinterm Kopf. Eine gute Gelegenheit zum Lesen. Überzeugt, hellwach zu sein, schlägt sie ihr Buch auf – eine ziemlich verkopfte Schnulze – und ist schon nach wenigen Sätzen weg.
    Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag aufwacht, ist Mittagszeit. Es riecht nach Essen von Frau Buschke: irgendetwas Deftiges. Vor dem offenen Fenster formiert sich ein Gewitter: Blitze zucken, dunkle Wolken verdichten sich zu einer nahezu schwarzen Wand, Windstöße blähen den per Kreppverschluss befestigten Moskitoschutz bedenklich auf, die Gardinen flattern wie Fahnen. Marit schafft es gerade noch, das Fenster zu schließen, bevor ein Wolkenbruch über dem Haus niedergeht.
    Hektische Schritte im Flur. Ihre Mutter steckt den Kopf zur Tür herein: »Alles zu? Gut.«
    Weg ist sie. Als wäre Marit zu blöd, selbst dafür zu sorgen, dass es nicht reinregnet.
    Die Unwetterfront hüllt den Tag in Dunkelheit, und Marit muss Licht einschalten. Es ist nur ein Gewitter, das war längst fällig, redet sie sich ein, und dennoch scheint alles, was draußen vor sich geht, mit Bedeutung aufgeladen. Erst recht, als der Regen sich in Hagel verwandelt und in der Ferne Sirenen aufheulen, um die Freiwilligen der Feuerwehr zu einem Brand oder einem Verkehrsunfall zu rufen.
    Unversehens kommt ihre Mutter zurück, einen Zettel in der Hand, Angst im Blick. Sie muss gegen den Donner und das Trommeln der Hagelkörner anbrüllen: »Ansgar ist abgehauen. Weißt du etwas darüber?«
    In Marit zieht sich alles zusammen. »Was soll das heißen: abgehauen?«
    Die Lampe auf dem Nachttisch flackert, erlischt, um gleich darauf heller aufzuleuchten als zuvor.
    »Das lag auf seinem Kopfkissen.« Ihre Mutter hält ihr den Zettel hin. Zwei Sätze, achtlos dahingerotzt in seiner kaum leserlichen Handschrift: »Ich komme nicht zurück. Macht euch keine Sorgen. Ansgar«
    »Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragt Marits Mutter.
    Marit neigt den Kopf und antwortet instinktiv: »Auf keinen Fall die Polizei rufen.«
    »Aber er ist ganz allein da draußen. Ihm könnte etwas Schreckliches passieren.«
    »Ist ihm doch schon.«

Kuckuckskind
    Väter. Du hast immer gesagt, solange ich nicht wüsste, wer mein Vater ist, könnte ich mich niemals selbst verstehen. Ich fand das blöd, wie aus so einer kitschigen Vorabendserie, die du seltsamerweise gern angeschaut hast. Aber vielleicht hattest du recht, vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, abzuhauen und ihn zu suchen, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie ich so etwas Schreckliches tun konnte – und verschweigen. Ob er mir das Lügen in die Wiege gelegt hat, würde mich mal interessieren. Kurzum: warum ich so ein Monster bin. Das bin ich doch, oder?
    K rokant. Wenn sie an die Sommer ihrer frühen Kindheit denkt, kommt Marit automatisch dieses Wort in den Sinn. Es steht für alles Kostbare. Damals besaßen sie ein Boot, eine Jacht namens Grietje, und weil ihr Vater die Geschäfte der Eisfabrik noch nicht allein, sondern mithilfe des Großvaters führte, konnte er sich Zeit für ausgedehnte Segeltörns mit der Familie nehmen. Meistens ging es in die Dänische Südsee oder bis hinauf in die Schären nach Schweden. Sobald sie irgendwo anlegten – jeden Tag eine neue Insel mit lustigem Namen –, kauften sie sich Softeis. Ansgar wollte seins immer mit Lakritzstreuseln, während Marit auf Krokantsplitter schwor. Sobald sie den

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