Luegensommer
Nordostseekanal durchquert hatten und bei Kiel ins offene Meer hinausglitten, die Ostsee tintenblau und mit Schaumkronen verziert, kam es Marit vor, als schmecke die Luft bereits nach Krokant. Und das Licht in den Häfen mit den bunten Holzhäusern hatte eine ebensolche Farbe, eine Mischung aus Honig und Karamell. Zuckerlicht. Sämtliche Erinnerungen sind dadurch vergoldet, obgleich sie weiß, es gab auch graue Tage, an denen es regnete und manchmal so gefährlich stürmte, dass sie unter Deck bleiben mussten, wo sie malten oder Piraten spielten oder sich seekrank von ihrer Mutter verhätscheln ließen.
Als Marit dreizehn und Ansgar zwölf Jahre alt war, wurde die Grietje im Heimathafen von einer Motorjacht gerammt und sank. Der verantwortliche Skipper hatte seinen Bootsführerschein erst seit wenigen Tagen. Da sie das Boot zuletzt nur noch selten genutzt hatten, beschlossen die Eltern, kein neues anzuschaffen. Nachdem die Grietje geborgen worden war, kletterten Ansgar und sie über das schlammbedeckte Wrack und versorgten sich mit Souvenirs. Seither lag immer ein etwa handflächengroßes Stück glatt poliertes Kirschbaumholz, das Ansgar an jenem Tag aus dem Deck herausgebrochen hatte, auf seinem Schreibtisch. Eine Art Talisman. Jetzt fehlt es. Marit glaubt kaum, dass sich die Polizisten dafür interessiert und es konfisziert haben. Viel wahrscheinlicher: Ansgar hat es mitgenommen, was ihrer Ansicht nach zweierlei beweist. Der Abschied ging ihm nah, nichtsdestotrotz ist es ihm ernst mit seinem Vorhaben, nie mehr nach Hause zurückzukehren.
»Und?« Ihre Eltern betrachten sie mit angespannter Erwartung. Sie stehen zu dritt in Ansgars Zimmer und sehen sich um, in der Hoffnung, Hinweise auf seinen Aufenthaltsort zu entdecken, indem sie sich einen Überblick darüber verschaffen, was er bei sich trägt.
Marit zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob er viel mitgenommen hat. Den iPod jedenfalls. Nicht so viele Klamotten, glaube ich. Aber ich schätze, Frau Buschke kennt sich da besser aus.« Es erscheint ihr sinnlos, ihnen die Sache mit dem Wracksplitter zu erklären.
»Frau Buschke?«, wiederholt ihr Vater, als wäre die Idee vollkommen abwegig.
»Ja, sie hat doch hier aufgeräumt. Außerdem macht sie die Wäsche.«
»Marit hat recht«, sagt ihre Mutter.
Ihrem Vater platzt der Kragen: »Da macht der sich mir nichts, dir nichts aus dem Staub, und niemand aus dieser Familie ist imstande zu beurteilen, ob in seinem Zimmer etwas fehlt?«
»Du ja auch nicht«, erwidert Marit.
Sie sind alle gereizt. Es macht Marit krank, ihre Eltern so gestresst zu sehen. Nicht dass es ihr anders erginge, doch die zwei sind immerhin die Erziehungsberechtigten, sie sollten einen Plan haben – oder zumindest in ihrer Gegenwart so tun als ob. Stattdessen pure Hilflosigkeit. Immerhin machen sie Marit keine Vorwürfe, weil sie nachts im Garten nicht stutzig wurde, als sie dort auf ihren Bruder traf. Das wäre auch gar nicht nötig. Sie zermartert sich ohnehin schon den Kopf, ob sie aus seinen Bemerkungen die richtigen Schlüsse hätte ziehen können. Hatte er eine Tasche dabei? Sie erinnert sich nicht. Sicher, er hat sich anders verhalten als sonst. Versöhnlicher. Jetzt, wo es zu spät ist, wird ihr klar, dass er Abschied nehmen wollte. Naiv von ihr, das nicht zu erkennen, sondern sich einfach nur zu freuen, weil sie sich zum ersten Mal seit Jahren wieder nähergekommen sind. Noch naiver von ihm, sich einzubilden, er könnte seinen Schlamassel einfach so hinter sich lassen. Ansgar, dieser Idiot. Nun wird Birte Varnhorn ihn auf jeden Fall für Zoés Mörder halten. Es sei denn, sie erfährt nichts von seinem Verschwinden.
»Der Bursche macht nichts als Schwierigkeiten«, sagt Marits Vater.
»Er ist völlig durcheinander«, entgegnet ihre Mutter. »Ich kann verstehen, dass er die Nerven verloren hat.«
»Wenn hier einer die Nerven verliert, dann bin ich das.«
Und das tut er. Zettelt einen Riesenstreit mit Marits Mutter an, ohne seine Tochter noch länger zu beachten. Sie ist kein kleines Kind mehr, das erschrickt, sobald die Harmonie brüchig wird, sie gesteht es den Eltern zu, Meinungsverschiedenheiten auszutragen und dabei laut zu werden, doch es gibt Grenzen. Marit ist verstört über die Art, wie sie aufeinander losgehen, die gegenseitige Respektlosigkeit, das unverhohlene Verlangen, verletzender zu sein als der andere. Unfähig, sich zu rühren, hört Marit zu, betrachtet die wutverzerrten Gesichter mit Befremden, das ihrer
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