Luegensommer
nichts, ich bin nicht so zartbesaitet, wie du vielleicht denkst. Außerdem gefällt mir George Clooney.«
Wie allen Frauen über dreißig, denkt Marit. Hässlich findet sie den auch nicht gerade. Nur alt.
Jan nimmt seiner Mutter den Picknickkorb ab und sie gehen zu dritt zum Auto. Während Ella auf den Rücksitz klettert, wirft Marit ihm einen fragenden Blick zu. Ob sie seine SMS nicht gelesen habe, flüstert er. Sie schüttelt den Kopf. Als sie auf der Fahrt den Posteingang ihres Handys überprüft, sieht sie die ungeöffnete Nachricht. Mist. Er hat gefragt. Kurz vor neun. Da hätte sie ohnehin nicht mehr Nein sagen können. Ganz toll. So hat sie sich den Abend nicht vorgestellt.
Beweise
Warum schreibe ich dir? Weil ich am Ende bin. Weil ich will, dass du das liest. Du oder irgendjemand anders. Damit endlich Bewegung in die Sache kommt. Ich könnte ja auch alles gestehen, klar, aber so einfach ist es eben nicht. Ich will bezahlen, nicht mehr aufwachen und den Leuten was vorspielen – und meinen Arsch retten. Echt schizophren, oder?
M arit verspürt das Bedürfnis, sich zu betrinken. Und zwar so richtig, mit harten Sachen, ein Besäufnis, das selbst einem Koma-Klub-Mitglied Respekt einflößen würde. Aber das geht nicht, weil Ella dabei ist und weil Ella früher ein Alkoholproblem hatte. Betrinken wäre nur ohne Jans Mutter eine Option, und selbst dann wäre ihr Freund alles andere als begeistert. Aber ohne Jans Mutter hätte sie ja überhaupt nicht dieses Bedürfnis.
Da sitzt sie nun unter diesem seidigen Abendhimmel mit ihrer Bionade Holunder aus Ellas Picknickkorb und knabbert an einer selbst gemachten Frikadelle, die für ihren Geschmack etwas überwürzt ist. Marit stellt sich vor, wie Ella für den Abend am Herd steht und Frikadellen brät, während sie selbst neben einem Güterzug durch den Hamburger Hafen läuft und danach zu einem Wildfremden ins Auto steigt. Bizarr. Sie will mit Jan reden, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Je mehr Geheimnisse sie vor ihm hat, desto mehr driften seine und ihre Welt auseinander.
Als ihr Handy klingelt, ist sie regelrecht dankbar. Die Nummer sagt ihr nichts, Festnetz, hiesige Vorwahl. Sie nimmt das Gespräch an.
»Ja?«
»Marit Pauli?«
Autsch. Die Kripo. Birte Varnhorn hat die Beweisstücke erhalten – den Rechner, den blutigen Stein – und sie weiß auch von wem. Warum sollte sie sonst anrufen? Was jetzt? Helene, diese Schlange, die hätte sie wenigstens warnen können.
»Wer ist da bitte?«, fragt Marit nach einer kurzen, ergebnislosen Denkpause.
»Varnhorn. Was ist bloß in Sie gefahren? Ich hätte Sie wirklich für vernünftiger gehalten.«
Sie sich auch.
»Sekunde, bitte. Ich verstehe Sie schlecht«, sagt Marit, was auch stimmt, denn der Film ist ziemlich laut. Clooney und Tarantino haben gerade als die Gecko-Brüder einen Pfarrer samt halbwüchsiger Tochter und biederem Adoptivsohn entführt und brausen nun im Wohnmobil durch Texas, um sich nach Mexiko abzusetzen.
Sie zischt Jan und Ella eine Entschuldigung zu, steht auf und sucht nach einer Rückzugsmöglichkeit. Rappelvoll ist es geworden. War ja klar, wenn schon mal was los ist in diesem Nest. Überall glückliche, sommertrunkene Paare, die sich aneinandergekuschelt auf Decken fläzen und aus vergleichbaren Picknickkörben bedienen, nur dass die meisten keine Brause enthalten. Während Marit sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnt, überlegt sie, ob sie einen Anwalt braucht und ob es ihre Lage wesentlich verschlechtern würde, wenn sie das Gespräch einfach wegdrückt. Andererseits: Entkommen kann sie dieser hochgestuften Politesse ohnehin nicht, außer sie versucht es wie Ansgar mit einem Trip nach Holland. Ganz schlechte Idee. Am Ende würden sie bloß in demselben Untersuchungsgefängnis in der Kreisstadt landen, wobei sie im Gegensatz zu ihrem Bruder volljährig ist.
Hinter dem Bierwagen wird es ruhiger. Marit fasst sich ein Herz. »Sind Sie noch dran?«
»Natürlich bin ich dran. Ich will ja wissen, was Sie sich dabei gedacht haben, Herrn Gornys Computer zu entwenden. Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«
»Ich kenne keinen Herrn Gorny«, entgegnet Marit wahrheitsgemäß. Schließlich hat sie Grischas Nachnamen nie zuvor gehört.
»Er Sie aber. Von Zoés Beerdigung. Und er behauptet, Sie heute mit seiner Tasche unter dem Arm vor seinem Hausboot im Hamburger Hafen angetroffen zu haben. Eine Aussage, die zu der Tatsache passt, dass ebendiese Tasche am Abend bei mir auf dem
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