Luegensommer
ihr Mund schlagartig trocken, als sie den Rückwärtsgang einlegt und das Gaspedal bis an den Anschlag durchtritt. Reifen quietschen, der Mini schießt nach hinten, ein gewaltiger Satz, worauf Grischa wieder genauso verwirrt aussieht wie am Anfang, die Arme baumeln nutzlos in der Luft. Marit schaut in den Rückspiegel, hinter ihr ist noch Platz, also setzt sie kontrolliert noch etwa fünfzig Meter weiter zurück, gibt ein paarmal im Leerlauf Vollgas. Das Geräusch erinnert sie an den Novemberabend, an dem sie und Jan zum ersten Mal »Denn sie wissen nicht, was sie tun« auf DVD angeschaut haben, während der Regen gegen die Fenster trommelte. Wenn er sie so sehen würde!
Grischa hat sich in Bewegung gesetzt, und zwar in ihre Richtung. Der hat Nerven, legt es tatsächlich darauf an. Wenn er sie da mal nicht unterschätzt. Marit ist in einer verzweifelten Lage und sie hält ihn für einen Mörder. Sie wird das jetzt durchziehen. Er wird schon ausweichen. Muss er ja.
Erster Gang. Marit rollt an, hupt, beschleunigt. Der Kleinwagen schießt frontal auf die trotzige Gestalt zu. Jetzt ist es zum Bremsen zu spät, selbst wenn sie wollte, es würde nichts nützen. Sie schließt die Augen, krallt die Hände am Lenkrad fest und bereitet sich auf den Aufprall vor.
Aber der bleibt aus.
Während der gesamten Rückfahrt ist Marit aufgekratzt. Das Licht ist weicher geworden, die Konturen schärfer, der frühe Abend voller Farben. Dieser weite Blick von der Köhlbrandbrücke über tintenblaues Wasser und Frachter und die weißen Villen am Elbhang. Wie schön Hamburg ist. Sie muss unbedingt mal wieder mit Ansgar zusammen herkommen, wenn sie ihre Mission beendet und ihn befreit hat, denn genau das wird sie tun – den eigenen Bruder aus dem Knast befreien. Großartig fühlt sich das an.
Nur schade, dass es so langsam vorangeht, Stoßstange an Stoßstange zuckeln die Autos stadtauswärts. Feierabendverkehr. Marit würde gern noch ein bisschen länger James Dean spielen, vielleicht hatte Jan ja damals recht, als er sie so genannt hat, und in ihr steckt viel mehr Verwegenheit, als sie selbst je angenommen hätte. Vielleicht ist sie sogar abenteuerlustiger, als Franka es jemals sein wird. Australien – pff! Work and Travel – lächerlich! Hier spielt die Musik.
Apropos. Marit schließt ihr iPhone an die Musikanlage des Mini an und hört mindestens zehnmal hintereinander »Dance with somebody« von Mando Diao in voller Lautstärke und danach das komplette neue Album der schwedischen Band, obwohl sie eigentlich kein Fan ist, zumindest nicht so sehr wie Jan, aber heute passen die schnellen, sorglosen Songs perfekt zu ihrer Siegerstimmung. Ihre Finger trommeln im Takt auf das Lenkrad, hin und wieder singt sie sogar die Refrains mit, in voller Lautstärke, obgleich sie überhaupt nicht singen kann. Es klingt schräg. Wen stört das?
Als das Handy zum ersten Mal klingelt, drückt sie den Anrufer weg, ohne auf das Display zu schauen.
B 73 . Stau. Hinter der Stadtgrenze wird die Straße zweispurig, dabei sind nicht mal vier Spuren genug, um die vielen Pendler in einem halbwegs erträglichen Tempo ans Ziel kommen zu lassen, morgens rein in die Großstadt, abends wieder raus aufs Land. Schon nach sieben. Gegen neun wollen sie sich treffen, und sie muss noch duschen, Haare waschen, sich etwas Hübsches anziehen – und zuallererst ihre Beweisstücke loswerden.
Das Handy klingelt, diesmal schaut sie hin. Helene. Ach ja, die gibt’s auch noch. Die ist bestimmt schon ganz kribbelig.
»Hey.«
»Und?«
»Rate, was ich hab.«
»Wie, was du hast? Bist du in Ordnung?«
»Absolut. Mir geht’s super. Grischa ist unser Mörder. Ich hab mir die Beweise geschnappt. Der Rest ist die reine Formsache. Jetzt wird alles gut.« Marit spricht etwas lauter als nötig, was komischerweise anders rüberkommt, als es sollte, wie sie sich eingestehen muss. Als würde sie sich selbst nicht wirklich glauben.
»Beweise geschnappt?«, echot Helene.
Mittlerweile ist Marits Adrenalinspiegel wieder unten, der Rausch verflogen. Sie grübelt, wie sie den blutigen Stein und Grischas Rechner der Polizei übergeben soll, ohne dass automatisch ihre eigenen Gesetzesüberschreitungen zur Sprache kommen. Einbruch. Diebstahl.
»Was für Beweise, Marit?«
»Erzähl ich dir später. Du, ich muss auflegen, hier ist gerade so viel Verkehr. Tschüss.«
Plötzlich steht Marit unausweichlich vor der Frage, über die es sich bis eben noch gemeinsam mit Mando Diao mühelos
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