Luegensommer
Fünfhundert-Euro-Scheine. Dafür musste sie die Heilige Schrift ein wenig aushöhlen, mit einem Cutter vermutlich, die Schnittkante sauber wie bei einem Passepartout.
Marit schnalzt mit der Zunge, nimmt das Geld, zählt nach und spürt, wie die simple Rechnung sie in Aufregung versetzt, so sehr, dass sie weiche Knie bekommt und sich auf ihr Bett fallen lassen muss. Zwanzig Scheine, das macht zehntausend. Zehntausend Euro! Woher hatte Zoé so viel Kohle? Da stimmt doch etwas nicht. Marit merkt, wie der Jagdeifer vom Vortag zurückkehrt und mit ihm ihre Vitalität. Sie darf jetzt nicht aufhören, an ihren Bruder zu glauben.
Zehntausend Euro, wenn das kein Motiv ist. Es sind schon Leute für weniger umgebracht worden.
Scheiße am Schuh
Ich muss über Marit nachdenken. Es ist praktisch unmöglich, neben ihr zu bestehen. Sie hat so genaue Vorstellungen vom Leben, scheint immer alles richtig zu machen, dafür verehre ich sie, auch wenn das ein komisches Wort ist, aber das macht sie unnahbar – ohne dass sie es will, schätze ich. Sie ist ein anständiger und aufrichtiger Mensch, zu anständig, um wie du aufregend zu sein, zu aufrichtig, um meine Lügen zu erkennen. Sie schließt von sich auf diejenigen, die ihr nahestehen, und das macht mich wahnsinnig. Ich muss ihr endlich die Wahrheit sagen, damit sie aufhört, an mich zu glauben. Stattdessen bin ich einfach nur wütend auf sie.
D as Café Kranzer ist ein Überbleibsel aus den Fünfzigerjahren. Einst auf einer Wiese außerhalb der Kreisstadt als Ausflugslokal erbaut, liegt es nun direkt an der Bundesstraße am Rande eines Siebzigerjahre-Viertels mit gesichtslosen Mehrfamilienhäusern und einigen wenigen Plattenbauten, das in letzter Zeit als sozialer Brennpunkt Schlagzeilen macht, wenn auch nur im Käseblatt. Seit die Retrowelle bis in die Provinz geschwappt ist, gilt das Kranzer mit seinen Resopaltischen und den Sitzmöbeln aus orangefarbenem Kunstleder als hip, weshalb Marit es nicht überraschend fand, als Weeeerner 4 ever diesen Treffpunkt vorschlug. Überrascht hat es sie nur, dass er überhaupt so schnell bereit war, sie zu treffen, und das nicht wie erwartet in Hamburg, sondern eben in der Kreisstadt. Das heißt, er kommt aus der Gegend. Möglicherweise kennt man sich.
Kurz nach vier. In der Schule haben sie ihnen eingetrichtert, im Umgang mit Internetbekanntschaften äußerste Vorsicht walten zu lassen. Marit gibt sich einen Ruck und betritt vom Parkplatz aus den Außenbereich, der im Gegensatz zum Innenraum des Kranzer überhaupt kein Flair hat. Waschbetonplatten, Waschbetonblumenkübel mit Stiefmütterchen, Tische mit Wachsdecken und Stühle aus Plastik. Voll ist es trotzdem. Sie erkennt ein paar Leute aus ihrem Abiturjahrgang, eine andere Clique. Marit ist froh über ihre Jackie-O.-Sonnenbrille, obschon ihr bewusst ist, dass die überdimensionalen Gläser sie nicht wirklich von der Außenwelt abschirmen. Dennoch fühlt sie sich ein wenig mehr inkognito, derselbe lächerliche Trugschluss, an dem botoxgeschädigte Promitussen festhalten.
Der Zweiertisch links neben dem Waschbetonbrunnen ist von einer einzelnen Person belegt. So weit, so gut. Beim Näherkommen ein kleiner Schock. Der Typ sitzt mit dem Rücken zu ihr, vor sich ein Bananensplit. Er trägt ein kariertes Hemd. Alles wie vereinbart: der richtige Tisch, die richtige Zeit, das richtige T-Shirt. Dennoch muss er der Falsche sein. Das ist nie und nimmer Weeeerner 4 ever. Das ist Hark Jansen.
Unsicher blickt Marit zum Parkplatz hinüber, wo Helene in ihrem Fiat 500 sitzt und sie beobachtet. Durch die getönten Scheiben kann sie die Freundin nicht erkennen, doch allein das Wissen um ihre Nähe bestärkt sie. Eine gute Entscheidung, mit den Alleingängen aufzuhören. Obwohl sie Helene auf der Fahrt hierher alles erzählt hat, was sie inzwischen weiß, inklusive der Fakten, die Ansgar belasten, ist diese weiterhin bereit, an seine Unschuld zu glauben, und will sich weiter an der Suche nach dem wahren Mörder beteiligen. Marit rechnet ihr das hoch an.
Sie räuspert sich. »Ich glaube, wir sind verabredet.«
Hark sackt ein Stück in sich zusammen, als er Marit erkennt. Dass auch er so ziemlich jeden anderen Gesprächspartner bevorzugt hätte, ist ihm anzusehen. Er hat das Ganze eindeutig unter Blind Date verbucht und sich für seine Verhältnisse regelrecht in Schale geworfen: Sein Hemd ist gebügelt, die Markenjeans sauber, das Haar gewaschen und mit reichlich Gel in künstliche Unordnung versetzt.
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