Luegensommer
erwägt, ihrer Mutter von dem Test zu erzählen, entscheidet sich jedoch dagegen, weil sie den Konflikt zwischen den Eltern nicht weiter anheizen will. Sie teilt dieses Geheimnis nicht gern.
Als ihre Mutter sich an den Küchentisch setzt, nimmt Marit ihr gegenüber Platz und schaut sie zum ersten Mal an diesem Tag direkt an. Sie wirkt gealtert. Älter als Ella. Älter, als sie ist.
Marit wendet den Blick ab, konzentriert sich auf die Tischplatte, die vertrauten Maserungen und Astlöcher des Fichtenholzes, bis an ihrem Stammplatz auf der Bank die Seitenansicht des Karpfens hervortritt, ein Stück daneben die Fratze eines Außerirdischen, entdeckt von Ansgar im Kindergartenalter. Die Ratte in der Ecke. Das war ihr Spiel damals, um die Langeweile des Stillsitzens während der Mahlzeiten zu überbrücken. Auf dem Engel, dem ein Flügel fehlt, steht eine Schüssel mit frischen Kirschen und verströmt einen süßsauren Duft.
»Warum hast du Papa betrogen?«, stellt Marit endlich die Frage, die ihr egoistischerweise besonders am Herzen liegt, und obgleich sie bezweifelt, für die Antwort gerüstet zu sein, konkretisiert sie: »Du hattest mich doch gerade bekommen. Hatte es etwas mit mir zu tun?«
»Oh, lieber Gott, nein. Natürlich nicht. So etwas darfst du nicht denken.«
»Warum dann?«
»Weißt du, unsere Ehe verlief in den ersten Jahren nicht gerade glücklich. Wir haben jung geheiratet, leider bevor wir uns beide sicher waren. Unsere Eltern machten Druck, meine aus religiösen Gründen, seine, weil sie den Fortbestand des Familienunternehmens so früh wie möglich gesichert haben wollten. Erst hatten wir nicht den Mumm, ihnen die Stirn zu bieten, dann waren wir darüber zu frustriert, um uns richtig aufeinander einzulassen. Wir waren beide schwach und naiv und nicht sehr nett zueinander.«
Marit verscheucht eine Fliege von den Kirschen und probiert, zwischen den Zeilen zu lesen. Will ihre Mutter andeuten, dass sie beide Affären hatten? Insgesamt kommt Marit die Begründung fürchterlich profan vor. Zwar wäre es schwer zu ertragen gewesen, hätte ihre Mutter sich als junge Frau in einen Fremden verliebt, aber ein Ehebruch aus einer Laune heraus, dem kindischen Gefühl geschuldet, zu wenig erlebt zu haben – da fehlt ihr jegliches Verständnis. Sie hat immer gedacht, ihre Eltern hätten sich bewusst entschieden, gleich nach dem Abitur eine Familie zu gründen. Für Marit ein Lebensentwurf mit Vorbildfunktion.
Okay, ihre Eltern waren jung und wollten Spaß. Geschenkt. Hätte nicht die Geburt eines Babys ihren Fokus verändern müssen, im Fall ihrer Mutter allein schon aus hormonellen Gründen?
»Und was war mit mir?«, hakt Marit nach.
»Du warst toll. Von Anfang an. Das hatte nichts mit dir zu tun. Wir haben dich über alles geliebt.«
»Aber das hat trotzdem nicht gereicht?«
Hilke Pauli atmet geräuschvoll ein und wieder aus. »Ich kann nur für mich sprechen: Nein, die Mutterschaft hat mir nicht gereicht. Ich wollte mehr vom Leben. Mehr von der Welt sehen. Mehr erleben. Mehr …«
»… Männer?«
»Es war nur ein anderer Mann, Marit. Und es war ein Fehler. Dein Vater weiß das. Wir haben ganz neu angefangen und alles wurde besser. Er hat mir verziehen.«
Darauf Marit sehr beherrscht: »Dir vielleicht, aber Ansgar nicht. Obwohl der am allerwenigsten dafürkann.«
»Du hast recht. Und das ist es, was ich mir heute vorwerfe. Wir haben Ansgar für unsere Fehler büßen lassen. Unbewusst natürlich, aber das macht es ja nicht besser. Darum ist er so geworden. So schwierig. Nicht weil er möglicherweise einen anderen Vater hat, sondern weil wir ihn anders behandelt haben als dich. Wir hätten die Schuld für sein aggressives Verhalten bei uns suchen sollen, nicht bei seiner Computermanie oder diesen Killerspielen.«
»Die dämlichen Spiele waren doch harmlos, sogar Jan spielt die ab und zu«, wiegelt Marit ab, da das Gespräch in eine Richtung abdriftet, die ihr nicht geheuer ist.
»Ich glaube kaum, dass Jan dieselben Spiele auf dem Computer hat wie dein Bruder. Die Kripoleute haben haufenweise indiziertes, teilweise sogar illegales Zeug bei ihm gefunden. Das sind ganz schlimme Spiele, damit trainiert man, auf Leute zu schießen. Wenn wir uns früher dafür interessiert hätten, dann …« Hilke Pauli unterbricht sich, um die Hände zu falten, als würde sie beten, was sie wahrscheinlich auch tut.
»Dann was?«
Ihre Mutter fixiert sie. »Du hast es so gewollt«, sagen ihr Blick und ihre aufrechte
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