Luegst du noch oder liebst du schon Roman
Danach gehe ich in Sammys Zimmer, das ich in den nächsten Tagen ausmisten will, und mache sein Bett. Lächelnd betrachte ich Kängu, das Stoffkänguru, ohne das er noch bis vor einem Jahr keinen Schritt getan hätte, und setze es zu den anderen Plüschtieren ins Regal.
Mit einem Schlag überfällt mich eine ungeheure Leere, wie ich sie sonst nur selten fühle, weil ich meistens viel zu viel zu tun habe, um wirklich zum Nachdenken zu kommen. Vor mir liegen drei freie Wochen. Mein Job bei
Julius beginnt erst im August, und für Pure-Nature muss ich ja nun nicht mehr arbeiten. Das Thema Oliver hat sich erledigt, und die Renovierung von Sammys Klassenraum steht auch erst in fünf Wochen auf dem Programm.
Doch anstatt die kostbare freie Zeit zu genießen, werde ich traurig. Ehe ich es mich versehe, laufen mir die Tränen übers Gesicht, ich rolle mich auf Sammys Bett zusammen und drücke seinen abgenutzten, geliebten Schlafhasen an meine Wange. In diesem Zustand bleibe ich liegen, bis mich das Klingeln des Telefons aufschreckt.
Es ist Tobias Bundschuh, den ich dummerweise vergessen habe zurückzurufen. Ich springe aus dem Bett und sprinte ans Telefon.
»Franca Peters«, melde ich mich atemlos. »Tut mir leid, dass ich noch gar nicht auf Ihren netten Anruf reagiert habe, aber vor Sammys Abreise ging hier alles drunter und drüber, wie Sie sich bestimmt vorstellen können.«
Tobias lacht.
»Ich schätze, es herrschte ähnliches Chaos wie bei mir zu Hause. Meine Eltern haben hier übernachtet. Sie sind aus Frankfurt angereist, um Lilo abzuholen. Jetzt muss ich erst einmal die Betten abziehen, aufräumen und mich ein bisschen sammeln. Aber vorher wollte ich gern noch wissen, ob wir uns heute Abend sehen, weil ich dann einen Tisch reservieren würde.«
Eine Ablenkung könnte ich momentan gut brauchen!
»Klar, sehr gern. Wo wollen wir uns treffen?«
Tobias lässt mir die Wahl zwischen indisch, italienisch,
französisch und … dem legendären Restaurant Eisenstein in Ottensen.
»Wenn Sie Lust haben, könnten wir in die Achtzehn-Uhr-Vorstellung im Zeise Kino gehen und danach essen«, schlägt er vor, und ich denke: Dich schickt der Himmel!
»Sie werden es nicht glauben, aber das ist meine Lieblings-Samstagabend-Kombination.«
»Wunderbar! Dann würde ich Sie um siebzehn Uhr abholen, wir besorgen die Karten, trinken noch einen Kaffee, und dann geht’s los. Bleibt nur zu hoffen, dass es einen Film gibt, auf den wir beide Lust haben …«
Der Abend mit Tobias wird ein voller Erfolg.
Wir haben uns schon während der Fahrt nach Ottensen auf das Du geeinigt, und binnen Minuten hatte ich das Gefühl, ihn seit Ewigkeiten zu kennen.
Ich war bereits im Vorfeld total entspannt. Es gab kein tausendfaches Umziehen, keine Frisurenexperimente, kein Herzrasen - einfach nur angenehme Vorfreude auf eine Verabredung mit einem sympathischen Begleiter.
Während des Films (eine französische Komödie) lachen wir an denselben Stellen und kommentieren im Anschluss beim Essen dieselben Dinge. Tobias erweist sich als echter Cineast, und so verbringen wir den halben Abend damit, Filmzitate zu erraten oder von Darstellern zu schwärmen.
Könnte es ein, dass gerade mein Seelenverwandter vor mir sitzt und sich meine Lieblingspizza mit mir teilt? Ich habe schon viel von diesem Phänomen gehört, es aber
noch nie selbst erlebt. Ich hatte noch nie das Gefühl, jemanden schon ewig zu kennen, obwohl ich gerade erst über ihn gestolpert bin - bis jetzt.
Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
»Glaubst du an Seelenverwandtschaft?«, frage ich neugierig.
»Ich glaube an Seelenwanderung«, antwortet Tobias, und ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel: Bitte lass diesen Mann keinen Esoterik-Freak sein, das ertrage ich nicht!
»Ich glaube fest daran, dass wir alle in irgendeiner Form wiedergeboren werden. Nicht gerade als Maus oder Ameise, aber garantiert in irgendeiner anderen transformierten Version.«
Transformation, hm, ich weiß ja nicht so recht. Andererseits habe ich Verständnis dafür, dass Tobias als Witwer an ein Leben nach dem Tod glaubt. Halt und Trost braucht schließlich jeder.
»Und wie sieht es mit dir aus?«
O nein, was soll ich jetzt antworten? Dabei hatte der Abend so schön begonnen!
Tobias (doch ein Seelenverwandter!) scheint meine Gedanken lesen zu können und wechselt das Thema:
»Wo hat Sammy denn das unglaubliche Rhythmusgefühl und die Musikalität her? Sein Musiklehrer hat mir erzählt, wie gut er
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