Luftkurmord
Freundinnen blamieren wollte, aber der hatte nur gelacht und
ihr bei der nächstbesten Gelegenheit unter die Nase gerieben, was er davon
hielt, wenn Mädchen sich wie Jungs benahmen. Hans stand jetzt unbeweglich an
der äußersten Kante und hielt den Kopf gesenkt. Sie schwankte nach vorn, ruckte
aber im gleichen Augenblick wieder zurück. Hatte sie etwa auch Angst? Sie hob
die Arme, und es sah so aus, als ob sie umdrehen und zurückgehen wollte, als
Franz dichter aufrückte, brüllte und Hans mit Schwung vom Brett stieß. Sie
hörte den Schrei und das laute Klatschen, als Hans flach auf dem Wasser
aufschlug.
Sie
drehte sich auf den Rücken und legte den Unterarm über ihr Gesicht. Kleine
bunte Sterne tanzten in der Dunkelheit vor ihren Augen und umgaben sie wie eine
Blase, aus der sie am liebsten nie wieder aufgetaucht wäre. So wie der Junge.
Die ganze Zeit konnte sie nur an ihn denken. Was war, wenn ihm doch etwas passiert
war? Was wäre, wenn ihr etwas passiert wäre? Wären die anderen auch einfach so
weggegangen und hätten sie allein gelassen? Ihre Zähne taten weh, so fest
presste sie ihre Kiefer aufeinander. Würde jemand sie vermissen? Würde es
jemandem auffallen, wenn sie so einfach weg wäre? Aber dazu hätte sie viel zu
viel Angst. Vor dem Alleinsein und davor, wie es wäre, wenn man tot war. Ob es
wehtat?
Vor
ihr im Becken tauchte Hans prustend auf. Sie schlug mit den Armen um sich, ging
unter, kam wieder hoch. Franz sprang neben ihr ins Wasser, griff nach ihr und
zog sie an den Beckenrand. Schwer atmend und zitternd hielt Hans sich fest. Mit
den vielen Wassertropfen im Gesicht und den roten Augen sah es aus, als würde
sie weinen.
Sie
drehte den Kopf zur Seite und spürte ihre eigenen Tränen über ihre Wangen
laufen.
Ein
Schwall kalten Wassers klatschte auf ihren Bauch, und sie schreckte hoch.
»Wir
gehen jetzt, Spätzlein.« Franz stand über ihr, die Hand noch zu einer Schale
geformt, und grinste. »Kommst du mit?«
Stumm
nickte sie, griff nach dem Handtuch und wischte sich trocken, bevor sie ihre
Hose und das T-Shirt überzog und den beiden anderen zum Eingang folgte. Sie
schwieg, während sie durch den kahlen Flur aus dem Bad hinaus und über die
kleine Brücke gingen, die den Kurpark mit dem gegenüberliegenden Ufer verband.
»Wollen
wir nicht noch einmal gucken gehen?«, fragte sie, blieb stehen und schaute in
Richtung Wehr. Es war zu weit weg, um etwas zu sehen oder zu hören. »Wenn ihm
doch etwas passiert ist?«
Hans
zuckte mit den Schultern. Dann packte sie Franz’ Arm »Komm.«
***
Hatte er das
wirklich gerade getan? Kai Rokke starrte abwechselnd auf seine Hände und den
jungen Mann, der vor ihm auf dem Boden lag. Hatte er ihn wirklich umgeworfen?
»He, du Idiot!« Der
junge Mann rappelte sich hoch, ballte die Fäuste und ging so schnell auf ihn
los, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte, auch wenn er schneller
reagiert hätte. Er hörte das Knacken, bevor der Schmerz in seinen Schädel fuhr
und ihm die Tränen in die Augen schießen ließ. Er taumelte, riss die Arme hoch
und duckte sich. Blut tropfte auf den Boden und auf seine Hose. Vor ihm lag der
Pflasterstein, den er dem anderen vor wenigen Sekunden aus der Hand geschlagen
hatte. Warum und weshalb, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht aus einem
Impuls heraus. Es war deutlich gegen die Regeln, mit Pflastersteinen zu werfen.
Er hasste es, wenn Regeln übertreten wurden. Oder hatte es eine Rolle gespielt,
dass dieser Stein Judith Bleuler hätte treffen können? Er bückte sich, griff
danach und richtete sich zu seinen vollen zwei Metern auf. Der junge Mann vor
ihm tänzelte wie ein Profiboxer von einem Bein aufs andere, die Fäuste erhoben.
Kai Rokke schluckte. Er war kein Schläger. Seine Finger krallten sich um den
Stein.
»Lassen Sie den
Stein fallen!«, sagte eine Stimme hinter ihm, und im gleichen Augenblick fühlte
er, wie seine Arme hinter seinem Rücken zusammengedrückt wurden. Er wandte den
Kopf. Einer der beiden Polizisten, die er vorhin aus dem Auto hatte steigen
sehen, hielt ihn fest.
»Ich wollte nicht …«
»Das sehen wir, was
Sie wollten.« Der andere Polizist stand dicht neben dem Kai Rokke triumphierend
angrinsenden jungen Mann. »Randalierer können wir hier nicht brauchen.«
Sein »Kommen Sie
mit« verstand Kai Rokke nur halb. Er wurde in Richtung Polizeiauto geschoben
und starrte, dort angekommen, in Judith Bleulers Gesicht.
Es wäre ihm
lieber gewesen, wenn sie nicht so konzentriert auf
Weitere Kostenlose Bücher