Luftkurmord
mit ihrer Arbeit am Fundort der toten Frau noch nicht fertig
war, könnte er ja noch mal hingehen und das, was ihm eingefallen war, einem
anderen Polizisten sagen. Es musste ja nicht Judith Bleuler sein. Und
vielleicht würden sie ihm die »Lydia« dann gleich mitgeben.
Er folgte der
Dreiborner Straße, konnte aber entlang des Weges keine Uniformen mehr
entdecken. Auch Menschen in diesen weißen Overalls, wie er sie aus den
Fernsehkrimis kannte, waren nirgendwo zu sehen. Vielleicht war es auch wirklich
nicht wichtig. Kai Rokke blieb kurz stehen, öffnete den Tabaksbeutel und drehte
sich eine Zigarette. Er steckte sie in den Mund, hob das Feuerzeug und ließ es
direkt wieder sinken. Judith Bleulers Blick war deutlich gewesen. Sie mochte
keine Raucher am Tatort. Vermutlich mochte sie überhaupt keine Raucher. Er
schaute seine Zigarette an und schüttelte dann den Kopf. So weit käme es noch.
Mit einem leisen Zischen entzündete er das Feuerzeug, hielt die Flamme an die
Zigarette und inhalierte tief. Ob die Frau, die er gestern Abend spät im
Wohnmobilpark an seinem Wohnmobil hatte vorbeigehen und den Weg hinter dem
Schwimmbad hatte nehmen sehen, wirklich die gleiche Frau war, die heute Morgen
tot in der Urft gelegen hatte? Warum wartete er nicht einfach, bis sie ihm
seine »Lydia« wiedergeben würden, und verschwand dann? Die ältere Polizistin
hatte gesagt, er könne gehen. Sie hatten seine Telefonnummer. Seine Adresse. Er
ging weiter. Es waren wirklich eine Menge Menschen unterwegs. Zu den Brücken
hin standen sie immer dichter. Er runzelte die Stirn. Ein Polizeiwagen schob
sich durch eine Seitenstraße und blieb hinter den Zuschauerreihen stehen. Er
war enttäuscht, als er bemerkte, dass es nicht Judith Bleuler und ihre Kollegin,
sondern zwei männliche Beamte waren, die aus dem Wagen stiegen.
»Hey!« Er schwankte
nach vorne und hätte beinahe sein Gleichgewicht verloren, als ein junger Mann
ihn von hinten überholte und dabei anrempelte. Er rannte an ihm vorbei, ohne
auf seinen Protest zu achten, und drehte sich noch nicht einmal um. Kurz darauf
war er in der Menge verschwunden.
***
»Ich fass es
nicht.« Judith beugte sich über das Lenkrad und schaute auf die Straße vor
sich. »Ich dachte, wir sind in der Eifel!«
»Sind wir auch.« Ich
öffnete die Tür einen Spaltbreit. Das bis dahin nur dumpfe Pfeifentrillern und
Geheule von Fußballhupen schwappte wie eine Welle ins Wageninnere. »Aber das
heißt ja nicht, dass wir hinterm Mond leben.« Ich stieg aus und betrachtete das
Treiben vor mir.
Die Olefbrücke war
voll mit Menschen, die sich langsam über die Straßenmitte und um die geparkten
Autos herum vorwärtsschoben. Plakate mit dicker Schrift, auf denen Slogans wie
»Stoppt den Bau« und »Natur vor Profit« standen, schwebten wie Wolken über ihren
Köpfen. Alles lief in mehr oder weniger geordneten Bahnen. Der Gemünder
Wutbürger wusste, was sich gehörte.
»Waren wir
informiert?« Judith stützte sich mit einer Hand auf dem Wagendach ab und schob
mit der anderen ihre Uniformmütze in den Nacken.
Ich schüttelte den
Kopf. »Sicher nicht. Die Meldung, wegen der die hier sind, stand ja erst
gestern Morgen in der Zeitung.«
»Sollen wir
einschreiten? Es ist eine nicht angemeldete Demonstration.«
»Es ist vor allem
eine friedliche Demonstration.« Ich ließ die Wagentür zufallen und ging auf den
Menschenzug zu, als das Knacken eines Lautsprechers über den Platz schallte und
gleich darauf eine Frauenstimme, unterbrochen von Störgeräuschen, zu hören war.
Wortfetzen nur, aber ich erkannte die Stimme sofort.
»Sie macht es
wirklich«, rief ich Judith zu, ignorierte deren überraschtes Gesicht und trabte
los. Ich wollte unbedingt an die Spitze des Demonstrationszuges, bevor die
Menge sich versammelte, um der Rednerin zuzuhören.
»Warte, Ina«, rief
Judith hinter mir her, und es dauerte einige Sekunden, bis sie mich eingeholt
hatte. »Wer macht was wirklich?«
Ich gab keine
Antwort, sondern schob stattdessen eine Demonstrantin aus dem Weg und drängelte
mich an ihr vorbei. Die Frau schnaubte und hob eine Faust. Wieder knackte ein
Lautsprecher.
»Andrea!« Ich
hoffte, dass die Frau, die sich gerade anschickte, auf eine aus Bierkisten
improvisierte Bühne zu klettern, mich hören würde. »Andrea!«
Sie zeigte keine
Reaktion, bis ich direkt neben ihr stand. Dann beugte sie sich zur mir hinunter
und musterte mich. »Bist du als Gemünderin oder als Polizistin hier, Ina?«
»Als Polizistin.
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