Lukkas Erbe
längst nicht mehr. Zwar konnte sie auch mit dem aufwendigen Make-up nicht mit Nicoles Aussehen konkurrieren, und kein noch so teures wadenlanges Kleid verbarg das Hinken. Aber nüchtern betrachtet war Nicole ein bedauernswertes Geschöpf. Gebunden an diese Quasselstrippe im Rollstuhl, argwöhnisch beobachtet von den Augen des treu sorgenden Polizistenfreundes. Sie hätte wetten können, dass Walter Hambloch auf der Stelle eine Großfahndung nach dem alten Opel auslösen würde, käme Nicole mal eine Viertelstunde zu spät nach Hause.
Und das nach einer trostlosen Kindheit und Jugend in tristen Heimen. Nicole hatte schon mehrfach darüber gesprochen, wenn sie auf einen kurzen Besuch in den Bungalow kam. Jedes Mal, wenn Nicole ein wenig von ihrem Dilemma offenbarte, war es für Miriam wie ein Ausflug in frühe Jahre. Als würde ihre Mutter sagen: «Nun stelldich nicht so an, Miriam. Mach nicht aus deinen Problemchen eine Nationalkrise. Andere Leute haben auch Sorgen.»
Ihre Nöte waren immer nur Problemchen gewesen, sobald sie Vergleiche mit anderen zog. Und im Vergleich mit Nicole Rehbach stand sie sehr gut da. Sie war frei, finanziell unabhängig, nicht mehr gezwungen, sich mit dem Holzwurm auseinander zu setzen, genau genommen auch nicht gezwungen, in Lukkas Haus zu leben. Nicht einmal er hatte das von ihr erwartet.
Und es gab keine Antworten, nicht in dem blutigen Teppich, nicht in den getrockneten Spritzern am Kamin, nicht in den Schränken, nicht im Keller, nicht auf dem Dachboden. Das Haus war so tot wie die fünf Menschen, die darin gestorben waren. Sie hätte tun können, wozu der Holzwurm geraten hatte, den Bungalow verkaufen. Sollten sich doch Fremde darin aufhalten und sich herumschlagen mit all den Gespenstern, die nicht erscheinen und Auskunft geben wollten.
«Warum lebst du dann hier?», hatte Nicole sie gefragt, und Miriam dachte immer noch darüber nach.
Sie wusste es nicht genau. Aber eines wusste sie inzwischen mit Sicherheit: Sie war in einer entschieden besseren Position als Nicole, war es immer gewesen.
Bei ihr war es immerhin ein exklusives Internat. Und sie war nicht von ihrer Mutter weggeworfen worden. Sie hatte ein paar nette Erinnerungen an frühe Jahre, als es ihrer Mutter noch gereicht hatte, Mutter zu sein. Die Probleme mit dem Holzwurm und dem Alkohol waren erst später gekommen, davor war ihre Kindheit nicht übel gewesen. Mit der Zeit war die Erinnerung verblasst, Heinz Lukka hatte als schillernde Illusion alles überlagert.
Nun bekamen die frühen Jahre wieder Farbe beim Vergleich. Nicole war vermutlich nie durch die weihnachtlichgeschmückte Spielwarenabteilung eines großen Kaufhauses geführt, nie vor die Wahl gestellt worden, sich ein Plüschtier zu wünschen oder eine Puppe, die sprechen konnte, wenn man an einer Schnur zog. Sie war fünf Jahre alt gewesen, hatte sich nicht entscheiden können und beides unter dem Tannenbaum gefunden. Nun fragte sie sich, wie die Bescherung in jenem Jahr wohl für Nicole ausgefallen sein mochte.
Was Hartmut Rehbach erzählte, rauschte an ihr vorbei. Er war immer noch bei Achim Lässler, berichtete von einem Nachmittag vor ewigen Zeiten, an dem Walter und er bei Andreas auf dem Lässler-Hof gewesen waren. Andreas hatte ein Mofa bekommen, um unabhängig vom Busfahrplan nach Lohberg zum Bahnhof zu fahren. Und Achim war vor Neid beinahe geplatzt, er hätte eben auch gerne ein Mofa gehabt, ebenso gerne ein Studium ins Auge gefasst wie sein älterer Bruder, aber er war ja nur der Erbe und fühlte sich schon mit sechzehn benachteiligt.
Walter Hambloch meinte beschwichtigend, es sei damals noch nicht so schlimm gewesen mit Achim. Problematisch sei es erst geworden, als Andreas sich in Sabine Wilmrod verliebte. Und da war Walter einer Meinung gewesen mit Achim Lässler, dass Frauen zu einem Störfaktor werden konnten. Hartmut Rehbach erinnerte Walter daran, dass er noch ein bisschen mehr gegen ihre Freundinnen gewettert habe als Achim, der eigentlich nur davon träumte, auch eine tolle Freundin zu finden.
Hartmut ging Miriam längst auf die Nerven. Auch Walter Hambloch störte. Sie vermutete, dass er schwul war. Die Art, wie er mit seinem Freund umging, legte den Verdacht nahe. Aber vielleicht war er auch beiden Geschlechtern zugetan. Manchmal starrte er Nicole völlig abwesend an, und Miriam hatte den Verdacht, dass er auch sie interessant fand. Natürlich nur wegen ihres Geldes.
Hätte Walter Hambloch gewusst, wie Miriam über ihn dachte,
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