Lukkas Erbe
plötzlich ein Mittel in der Hand, eine Person genau zu bezeichnen. Für ihn hatten die Buchstaben und Fotos Wahrhaftigkeit, sie veränderten sich nicht. Und die Karten ließen sich gut in einer Hosentasche unterbringen. So konnte er sie immer bei sich haben und steckte sie sofort ein.
Nachdem ihre Schularbeiten erledigt waren, beschrieb Patrizia ihm auch Karten mit den Namen seiner Mutter und seiner Schwester, von der er meinte, er hätte sie in der vergangenen Nacht wieder gesehen und sie hätte ihn weggeschickt.
Es war immer noch Karton übrig, aber es gab auch noch viel, was er unterscheiden lernen musste. Den ganzen Vormittag war Patrizia mit ihm unterwegs, fotografierte das Haus, den Stall, die Scheune, die Kühe auf der Wiese dahinter, die Kälber und den Zuchtbullen, fertigte weitere Karten für den Grundbedarf, erklärte ihm Gott und die Welt.
Renate meinte schon beim Mittagessen, ihm müsse der Kopf qualmen. Bruno amüsierte sich über Patrizias Eifer, aber kurz nach Mittag verging ihm das Lachen. Da rief Toni von Burg an und bat, Bruno möge sofort zum Schlösser-Hof kommen.
Schon an diesem Samstag, es war der 11. Mai 96, hätte es im Dorf wieder Arbeit für die Polizei gegeben. Toni von Burg, der Schwiegervater von Bärbel, war zum Schlösser-Hof gefahren, um ein paar Sachen für Jakob zu holen. Jakob sollte ein paar Tage bei ihnen bleiben. Tonis Frau Illa hielt es für besser, ihn mit seinem Enkel vom Schmerz um Trude abzulenken, als ihn in einem Haus alleine zu lassen, in dem er von nun an ganz auf sich gestellt wäre.
Es sprach wenig für einen Einbruch und viel dagegen. Das Küchenfenster war zertrümmert, aber abgesehen davon schien alles in Ordnung zu sein.
Die Schränke waren nicht durchwühlt. Die wenigen Schmuckstücke, die Trude besessen hatte, lagen unangetastet in einer kleinen Schachtel im Wohnzimmerschrank, wie Toni von Burg mit einem Blick feststellte. In der Diele stand Trudes Handtasche mit der Geldbörse. In einem Küchenschrank fand Toni auch etwas Bargeld in einer Zuckerdose und ein Sparbuch unter einem Stapel Suppenteller.
Toni ging ins Obergeschoss. Im Schlafzimmer glaubte er sich sekundenlang in einen Hühnerstall versetzt. Als er die Tür öffnete, wirbelte er schon mit dem schwachen Luftzug Unmengen von Federn auf. Der blaue Überwurf, den Trude tagsüber immer auf das Doppelbett gelegt hatte, war heruntergerissen, das Bettzeug völlig ruiniert, Kopfkissen und Daunendecken von unzähligen Messerstichen zerfetzt, sogar die Matratzen aufgeschlitzt.
Auch Bens Zimmer war verwüstet. Einer alten Stoffpuppe, mit der er lange Zeit das Bett geteilt hatte, waren Kopf und Glieder abgetrennt worden, der Schaumgummileib von mehreren Schnitten kreuz und quer aufgetrennt, die bunten Flocken der Füllung verteilten sich mit den Federn über das ganze Bett.
Nachdem er das gesehen hatte, gelangte Toni von Burg zu der Überzeugung, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Einbruch handelte. Hier hatte jemand gewütet, der die Familie Schlösser hasste. Er dachte an Achim Lässler. Ben hätte das bestätigen können, doch ihn fragte niemand. Es war auch nicht nötig, Bruno sah es ebenso wie Toni.
Achim hätte dringend die Hilfe eines Psychologen gebraucht. Darauf hatte Bruno schon mehrfach hingewiesen, aber Achims Eltern brachten nicht mehr die Kraft auf, sich um ihren Sohn zu kümmern. Also versuchte Bruno es. Er fuhr zum Lässler-Hof. Fast zwei Stunden redete er auf Achim ein und hörte nur: «Schade, dass keiner in den Betten gelegen hat. Und beim nächsten Mal haut er mich nicht so leicht um. Ich mach sie alle kalt.»
4. September 1997
Nach Nicole bemerkte Patrizia als Nächste, dass Vanessa Greven nicht zu Hause war, machte sich aber zunächst noch keine Gedanken darüber. Im Mai 97 hatte Patrizia ihr Traumziel erreicht, sie hieß nun Kleu und war im achten Monat schwanger. Sie hatte sich mit Begeisterung in die Bedienung des Melkroboters eingearbeitet, steuerte ebenso begeistert den großen Traktor, wenn man sie ließ, was jedoch nur selten der Fall war, meist hätschelte sienur die Kälber und Ben. Vor ihrer Hochzeit hatten Bruno und Renate Kleu noch gewichtige Worte mitgeredet. Damit war es nun vorbei. Renate lebte nicht mehr auf dem Hof. Sie hatte sich von Bruno getrennt und war zu ihrem Freund gezogen. Bruno kümmerte sich nur noch selten um Ben, er hatte eingesehen, dass alle Mühe, Ben zu sinnvoller Arbeit anzuhalten, vergebens war.
Mit dem breiten Trauring
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