Lukkas Erbe
konnte – für alle.»
«Ich war zuletzt vor vier Jahren hier», sagte Nicole. «Da kannte ich Hartmut noch nicht. Er ist nicht der Typ, mit dem man ins Kino gehen kann. Er schaut sich im Höchstfall mal ein Fußballspiel im Fernsehen an, aber das auch nur, wenn seine Freunde dabeisitzen. Mich hatte eine Kollegin aus dem Seniorenheim überredet, die sich nicht allein in den Film traute. Die halbe Zeit hielt sie die Hände vor die Augen und fragte, was gerade passierte. Es war so eine elende Metzelei.»
Unwillkürlich dachte Miriam an das Horrorvideo und ihren Alptraum. Auf dem Weg zurück ins Dorf sprach siezum ersten Mal darüber. Über das Gefühl all die Jahre, den Tod ihrer Mutter verschuldet zu haben mit einem unerlaubten Griff in Lukkas Schrank.
«Mein Verstand hat mir tausendmal gesagt, es sei nicht meine Schuld gewesen. Meine Mutter war sturzbetrunken. Der Holzwurm hat einmal erwähnt, man hätte bei ihr zwei Komma acht Promille festgestellt. Aber sie hat erst nach meinem Alptraum getrunken. Und gegen Gefühle ist der Verstand machtlos.»
Als sie an dem Alleebaum vorbeifuhren, zeigte Miriam kurz zur Seite. Plötzlich war sie nur noch ein verletztes Kind, ein völlig vereinsamtes Geschöpf, das sich eingeigelt hatte mit einer Hand voll Gespenster, das sich selbst zerfleischte, weil es einen Mörder geliebt und ihm vertraut hatte.
«Bist du nur deshalb hergekommen?», fragte Nicole. «Weil du gedacht hast, du findest hier etwas und kannst ihm die Schuld am Tod deiner Mutter geben?»
Miriam zuckte mit den Achseln. «Ich weiß es nicht – vielleicht. Aber es ist nichts da. Mir reicht auch seine Schuld an den anderen. Und es gibt immer noch Momente, da kann ich es einfach nicht glauben. Ich weiß zu wenig über die Frauen, über Svenja Krahl und die Amerikanerin gar nichts. Und bei Marlene Jensen spricht eigentlich sein Abschiedsbrief dagegen. Er hatte eine sehr geschliffene Sprache, immer den passenden Ausdruck auf der Zunge. Wenn es sein Traum gewesen wäre, Rache zu nehmen an der schönen Maria, hätte er es in seinem letzten Brief anders formulieren müssen, nicht so, als träume er noch. Das Mädchen war seit zwei Tagen verschwunden, als er diese Zeilen schrieb.»
Es war das erste Mal, dass Miriam offen über ihre Gefühle sprach, über die Zeit vor Lukkas Tod und den Abgrund danach. Über die Fassungslosigkeit, dieses Aufbäumenim Innern, sich klammern an eine Illusion und genau wissen, dass es besser wäre, endlich loszulassen. Sie waren längst wieder im Bungalow, Miriam erzählte immer noch – von seinen Briefen, den Besuchen im Internat, den Treffen in teuren Restaurants, der großzügigen finanziellen Unterstützung, seiner scheinbar so liebevollen, fürsorglichen Art, wie er sich immer wieder Anteil nehmend über ihre Verletzungen ausgelassen, sich erkundigt hatte, wie sie sich fühle.
«Jetzt denke ich manchmal, es war ihm vielleicht ein besonderes Vergnügen, sich auszumalen, wie mir der halbe Unterleib weggeschnitten wurde. Dass seine Briefe nur eine Art von Psychoterror waren, dieses beschauliche Leben hier mit all den netten Leuten, die ich nicht kennen lernen durfte. Tausendmal hat er mir erklärt, dass ich die Landstraße nicht fahren könne. Er hat es mir so lange erklärt, bis ich überzeugt war davon. Ich kenne die Tricks, kenne sie alle. Ich habe studiert, wie man einen Menschen manipuliert, und habe nicht bemerkt, wie ich selbst manipuliert wurde.»
Miriam sprach bis weit in den Abend hinein, vieles war widersprüchlich. Danach fiel lange Zeit kein Wort mehr über Lukka. Als sie sich am nächsten Nachmittag wieder trafen, unterhielten sie sich nur noch über Nicoles Situation.
Es war auch für Nicole das erste Mal, dass sie völlig offen mit einer Frau über alles sprechen konnte, sogar über das, was sie seit Hartmuts Unfall entbehrte. Mit Bärbel von Burg und Sabine Lässler darüber zu reden war ihr unmöglich. Beide waren nur die Frauen von Hartmuts Freunden. Sie verstand sich gut mit ihnen, doch diese besondere Vertrautheit hatte sich nie eingestellt. Und bei Miriam war sie da.
Ob es an Miriams Psychologiestudium lag, an ihrer Offenheitoder an der Tatsache, dass sie sich dem Anschein nach nichts aus Männern machte und in ihr keine Konkurrenz sah, wusste Nicole nicht. Es war auch nicht so wichtig. Zu Bärbel und Sabine konnte sie jedenfalls nicht sagen: «Ich sehne mich danach, wieder einmal richtig mit einem Mann zu schlafen. Es müsste allerdings ein Mann sein, der
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