Lukkas Erbe
erkundigte sich, ob die Dessertauswahl nicht nach ihren Wünschen sei. «Doch», sagte sie. «Aber wir verzichten auf das Dessert. Ich möchte zahlen.»
Wenig später gingen sie ins Freie. Hartmut auf Krücken, Walter hielt sich ein Stück hinter ihm, um sich nicht noch mehr Vorwürfe anhören zu müssen. Nicole führte Miriam am Arm hinaus und sagte besorgt: «Du kannst doch so nicht fahren. Gib mir den Schlüssel. Ich bringe dich nach Hause.»
Das kam überhaupt nicht infrage. Mutter am Steuer. Mutter hatte sie monatelang in Sicherheit gewiegt. Und dann hatte Mutter sie geradewegs in den Untergang gefahren.
«Ich glaube, es ist besser, wenn ich sie begleite», meinte Walter. «Tut mir Leid, Miriam, wirklich. Ich wollte uns den Abend nicht verderben. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du … Es muss der Samstag gewesen sein, die Burschen waren immer samstags in der Diskothek.»
Der Jaguar hatte eine Zentralverriegelung, er stieg ein, ohne sich zu erkundigen, ob sie überhaupt eine Begleitung oder jetzt lieber allein sein wolle. Zweimal geriet sie in Versuchung, es ihn bedauern zu lassen. Während der Fahrt verlor er kein Wort, betrachtete sie nur verstohlen von der Seite. Das fühlte sie.
Die Narbe auf ihrer Wange juckte unter seinen Blicken, sie juckte immer, wenn jemand sie anstarrte. Lange musste sie es nicht ertragen. Nachts herrschte nicht viel Verkehr auf der Autobahn. Die Landstraße nach Lohberg war völlig frei, der Jaguar fuhr locker zweihundertzwanzig Stundenkilometer. Sie brauchte nur knapp zwanzig Minuten. Schon kurz hinter Köln war der Mercedes zurückgeblieben.
Miriam fuhr in die Garage. Walter Hambloch bestand darauf, sie auch ins Haus zu begleiten. Sie war nicht in der Verfassung, um ihn daran zu hindern. Als sie den Bungalow durch die Verbindungstür zur Diele betraten, steuerte er umgehend den Wohnraum an. Er kannte sich gut aus. Der Polizist am Ort des Geschehens.
«Ich mache dir etwas zu trinken.» Dann stand er auch schon an der Hausbar und hantierte mit Flaschen und Gläsern. Er bestand darauf, dass sie ihr Glas sofort austrank, füllte es noch einmal und versprach dabei: «Ich gehe der Sache nach, Miriam. Eine Hotelbuchung lässt sich auch nach all der Zeit noch überprüfen. Wahrscheinlich hat er dir nur erzählt, dass er nicht zurück ins Dorf will. In welchem Hotel ist er abgestiegen?»
«Das weiß ich nicht.»
«Ich finde es heraus.» Walter Hambloch war sehr zuversichtlich. Es wunderte sie, dass er sich überhaupt darum bemühen wollte, wenn er meinte, die beiden Männer hätten den falschen Tag angegeben. Und wenn dem so war, dann hatte ihr an jenem Sonntag im Juli 95 einMann gegenübergesessen, der nur eine Nacht zuvor ein Mädchen getötet und damit seinen ersten Mord begangen hatte. Das konnte sie nicht glauben. Lukka war an dem Abend nicht anders gewesen als sonst. Sie war überzeugt, ihr hätte eine Veränderung in seinem Verhalten auffallen müssen.
Allmählich wurde sie ruhiger, ob es am Alkohol lag oder an der unvermittelt geweckten Hoffnung, hätte sie nicht sagen können. «Kannst du mir Einblick in die Ermittlungsunterlagen verschaffen?», fragte sie nach einer Weile.
Walter bedauerte. «Die liegen bei der Staatsanwaltschaft. Da kommt von uns niemand mehr ran.»
Dann verabschiedete er sich. Sie begleitete ihn zur Tür und schaute noch in die Dunkelheit, als er längst verschwunden war. Als sie die Tür endlich schloss, hörte sie Heinz Lukka in seiner sanften, eindringlichen Art fragen: «Warum hast du nicht sofort mit mir darüber gesprochen, kleine Maus?» Damals hatte er sich rechtfertigen, die Sache mit dem verfluchten Horrorfilm klarstellen können. Vielleicht hätte es auch im August 95 eine Erklärung gegeben. Um diese Chance hatte der Idiot ihn am Ende betrogen. Und sie hatte mit ihm auf der Terrasse gesessen, seine Hände gehalten …
Am Sonntagvormittag fuhr Nicole vergebens zum Bungalow, um zu sehen, wie es Miriam ging. Ihr wurde nicht geöffnet. Am Nachmittag probierte sie es nochmal, Miriam war nicht mehr da.
Drei volle Wochen lang versuchte Miriam, mit sich selbst ins Reine zu kommen. An Nicole, die auf ihr Drängen hin eine feste Anstellung gekündigt hatte, dachte sie kaum einmal. Sie fuhr herum ohne Sinn und Zweck. Nirgendwo blieb sie länger als einen Tag. Und egal, wo sie anhielt, Lukkas Stimme war schon da. Manchmal hörte sie auch Bruno Kleu über die Finger seiner Tochter sprechen,hörte ihn sagen: «Ich dachte, es wäre eine reizvolle
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