Lukkas Erbe
es dauert bestimmt nur ein paar Stunden, dann bin ich wieder hier.»
Patrizia hatte eine romantische Vorstellung von einer Geburt, war überzeugt, sofort danach mit ihrem Kind im Arm wieder ins Auto zu steigen, nach Hause zu fahren und sich um Ben kümmern zu können. Nicole sah das ein wenig anders, nickte trotzdem und fand, Maria hatte Recht. Jetzt waren schon zwei Frauen, ohne Spuren zu hinterlassen, verschwunden. Genau wie vor zwei Jahren. Sie überlegte, ob sie etwas unternehmen sollte.
Neue Ansichten
In den ersten beiden Novemberwochen des Jahres 96 hatte Nicole nichts unternommen, nur viel gegrübelt. Ihre sichere Zeit lief ab, für die Zukunft sah es düster aus. Miriam war so anders seit dem Abend im Restaurant, tat genau das, was Walter prophezeit hatte – verhandelte mit Bruno Kleu, ab wann und wie oft Ben zu ihr kommen sollte. Für Nicole hatte sie kaum noch Zeit.
In der ersten Woche hatte Nicole Spätschicht, hielt zweimal vergebens am Vormittag beim Bungalow. Miriam war unterwegs, machte Besuche in der Landesklinik, sprach mit den Ärzten, die Ben dort betreut hatten, holte sich nützliche Ratschläge für den Umgang mit ihm.
In der zweiten Woche klingelte Nicole dreimal am Nachmittag, ohne Erfolg. Es lief laute Musik. Nicole erkannte die Gruppe «Vaya con dios». Danny Klein sang «Forever blue» und war noch vor der Haustür sehr gut zu verstehen. Dreimal dasselbe Lied, es schallte durchs ganze Haus. Ob Miriam bei dem Lärm den Türgong nicht hörte oder nicht öffnen wollte, darüber dachte Nicole lieber nicht nach.
Sie tat sich sehr schwer in den letzten Tagen im Seniorenheim. Es kam so viel zusammen. Walter Hamblochs düstere Prognosen, Miriams Rückzug aus einer Beziehung, die so viel versprechend begonnen hatte, und die Melancholie auf der Station. Viele der alten Leute kannte sie doch seit Jahren, alle ihre Kolleginnen bedauerten, dass sie ging. Und sie wusste nicht mehr, wohin.
Am 16. November fuhr sie zum letzten Mal zur Frühschicht. Am Nachmittag kam sie zurück, später als sonst. Der Abschied hatte sich hingezogen, Einkäufe hatte sie auch noch gemacht. Die Lebensmittel lagen im Kofferraum. Auf dem Beifahrersitz lag ein halbes Dutzend kleiner Päckchen, Abschiedsgeschenke. Ein paar von den alten Leuten hatten geweint.
Ihr war sehr sonderbar geworden, als eine bettlägerige Frau sagte: «Das heißt nicht auf Wiedersehen, Kindchen. Wir sehen uns nicht wieder, nicht in diesem Leben.»
Bei den Worten hatte sie den Dorffriedhof vor sich gesehen, ein schweigendes Grüppchen an einem offenen Grab. Wie von einer Kamera herangezoomt waren einzelne verweinte Gesichter aufgetaucht. Ihre Schwiegereltern, der Freundeskreis und Patrizia. Ihr eigenes Gesicht und ihren Mann suchte sie vergebens.
Es dauerte einen Moment, ehe sie zu begreifen glaubte, dass sie sich nur an die Beerdigung von Hartmuts Großmutter erinnerte. Das Szenario stimmte jedenfalls, und daHartmut neben ihr gestanden hatte, konnte sie sein Gesicht in der Menge nicht entdecken. Sie hätte zur Seite schauen müssen, aber das tat man wohl nicht, wenn man sich bloß erinnerte.
Sie hätte gerne ein paar Worte mit Miriam gewechselt. Über die Worte der alten Frau, die Erinnerung an den Friedhof und die Furcht, den sicheren Hafen verlassen zu haben und nun in unbekannten Gewässern zu treiben.
Die Musik hörte sie schon, als sie in den breiten Weg einbog. «Forever blue.» Sie wusste, dass Miriam ihr nicht öffnen würde, stieg trotzdem aus, klingelte ein paar Mal, wartete – es hatte keinen Sinn.
Deprimiert stieg Nicole wieder ins Auto und fuhr nach Hause. In die Garage fahren konnte sie nicht, davor stand ein Streifenwagen. Martin Schlömer, der junge Kollege von Walter Hambloch, der ihren alten Opel gekauft hatte, saß hinter dem Steuer und war mit einem Rätselmagazin beschäftigt. Er schaute kurz auf, als sie ausstieg, grüßte salopp mit einer Hand und vertiefte sich wieder in sein Magazin.
Walter Hambloch saß mit Hartmut am Computer. Während sie ihre Abschiedsgeschenke auf dem Couchtisch ablegte, erkundigte er sich: «Du bist spät dran, warst du noch bei Miriam?»
Nicole schüttelte den Kopf. Walter grinste flüchtig. «Sie hat dich nicht reingelassen, was? Bruno Kleu war den halben Nachmittag bei ihr – mit Ben. Vergangene Woche habe ich seinen BMW auch ein paar Mal vor dem Bungalow gesehen. Da war er aber alleine bei ihr. Wenn sie so weitermacht, darf sie sich nicht wundern, wenn hier ein paar Gerüchte
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