Lullaby (DE)
Glas hinweg späht sie in den Raum. Beobachtet Oyster, der mich bedrängt.
Er ist so alt, wie ihr Sohn Patrick jetzt wäre.
Helen ist so alt, wie meine Frau jetzt wäre, wenn ich eine Frau hätte.
Oyster ist der Sohn, den sie hätte, wenn sie einen Sohn hätte.
Das könnte mein Leben sein, wenn ich ein Leben hätte. Meine Frau weit weg und betrunken. Meine Tochter in einer durchgeknallten Sekte. Peinlich berührt von uns, ihren Eltern. Ihr Freund wäre dieses Hippiearschloch, der Typ, der mit mir, ihrem Dad, eine Schlägerei anfangen will.
Und vielleicht könnten Sie Zeitreisen unternehmen.
Vielleicht könnten Sie die Toten wieder lebendig machen. Alle Toten, vergangene und gegenwärtige.
Vielleicht ist das meine zweite Chance. Genau so etwas wie hier hätte nämlich aus meinem Leben werden können.
Helen in ihrem Chinchilla-Mantel sieht zu, wie der Papagei sich selbst auffrisst. Und sie beobachtet Oyster.
Und Mona schreit: »Kommt schon, kommt schon.« Sie sagt: »Es ist Zeit, mit der Anrufung zu beginnen. Wenn wir also jetzt einfach den heiligen Raum erschaffen könnten, kann es losgehen.«
Nebenan humpeln die Bürgerkriegsveteranen zu Trauermusik nach Hause.
Oyster bedrängt mich, und der Stein in meiner Hand ist schon warm. Und ich zähle 11, zähle 12 ...
Mona Sabbat muss mit uns kommen. Jemand ohne Blut an den Händen. Mona und Helen und ich und Oyster, wir vier werden gemeinsam durch die Lande ziehen. Einfach irgendeine kaputte Familie. Familienurlaub. Die Suche nach einem unheiligen Gral.
Und hundert Papiertiger, die unterwegs zu erschlagen sind. Hundert Büchereien, die zu plündern sind. Bücher, die zu entwaffnen sind. Die ganze Welt, die vor dem Ausmerzen zu retten ist.
Lobelia sagt zu Grenadine: »Hast du von diesen vielen Toten in der Zeitung gelesen? Angeblich ist das so was wie die Legionärskrankheit, aber für mich sieht das total nach schwarzer Magie aus.«
Und mit ausgebreiteten Armen, sodass die braunen Haare unter den Achseln zu sehen sind, treibt Mona die Leute in der Zimmermitte zusammen.
Sparrow zeigt auf etwas in ihrem Katalog und sagt: »Das ist die Minimalausrüstung, die man für den Anfang braucht.«
Oyster schüttelt sich das Haar aus den Augen und reckt mir sein Kinn entgegen. Er sticht mir seinen Zeigefinger in die Brust, sticht mir einfach mitten in meine blaue Krawatte hinein und sagt: »Hör mal zu, Dad.« Er sticht weiter und sagt: »Das einzige Merzlied, das du kennst, ist ›Für mich bitte medium durchgebraten‹.«
Und ich höre auf zu zählen.
Schnell wie ein Muskelzucken, stoße ich Oyster zurück, schlage ich ihn, schlage ihn so fest, dass meine Hände laut auf seiner nackten Haut klatschen. Und alle sehen schweigend zu, während mir das Merzlied durch den Kopf jagt.
Und wieder habe ich getötet. Monas Freund. Helens Sohn. Oyster bleibt noch kurz stehen, sieht mich an, das Haar fällt ihm über die Augen.
Und der Papagei stürzt von Badgers Schulter.
Oyster hebt mit gespreizten Fingern die Hände und sagt: »Reg dich ab, Dad«, und geht mit Sparrow und allen anderen zu dem Papagei, der tot zu Badgers Füßen liegt. Tot und halb nackt gerupft. Und Badger stubst den Papagei mit seiner Sandale an und sagt: »Zause?«
Ich sehe Helen an.
Meine Frau. Auf diese neue, unheimliche Weise. Bis dass der Tod uns scheide.
Und wenn Sie Leute töten können, können Sie sie vielleicht auch wieder lebendig machen.
Und Helen, das rosa verschmierte Glas in der Hand, sieht mich bereits an. Sie schüttelt den Kopf und sagt: »Das war ich nicht.« Sie hält drei Finger hoch, Daumen und kleiner Finger berühren sich, und sagt: »Hexenehrenwort. Ich schwöre es.«
18
Hier und jetzt, da ich dies schreibe, bin ich in der Nähe von Biggs Junction in Oregon. Sarge und ich parken an der Interstate 84 und haben einen alten Pelzmantel auf den Seitenstreifen neben dem Auto geworfen. Der Pelzmantel, mit Ketchup bekleckert und von Fliegen umschwirrt, ist unser Köder.
Diese Woche berichten die Boulevardblätter von einem neuen Wunder.
Die Leute reden vom Highway-Samariter. Die Boulevardblätter nennen ihn den »I-84-Messias«. Ein Mann, der irgendwo am Highway anhält, überall dort, wo ein totes Tier liegt, und ihm die Hand auflegt. Und Amen. Zerfetzte Katzen, zermatschte Hunde, selbst ein von einem Sattelschlepper halbierter Hirsch – sie alle atmen wieder und schnüffeln umher. Erheben sich auf ihre gebrochenen Beine und blinzeln mit ihren von Vögeln ausgepickten
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