Lullaby (DE)
Wiederkäuen beschäftigt und weicht keinen Millimeter.
Den Ortskern bilden zwei Gebäudeblocks aus roten Ziegelsteinen. Über der Hauptkreuzung blinkt eine gelbe Laterne. Eine schwarze Kuh reibt sich am Metallpfosten eines Stoppschildes die Flanke. Eine weiße Kuh frisst Zinnien aus einem Blumenkasten vor dem Postamt. Eine andere Kuh liegt auf dem Bürgersteig vor der Polizeiwache.
Es riecht nach Curry und Patschuli. Der Hilfssheriff trägt Sandalen. Der Sheriff, der Postbote, die Kellnerin im Café, der Wirt in der Kneipe, sie alle haben einen dunklen Punkt zwischen den Augen. Ein Bindi.
»Jesses«, sagt Sarge. »Die ganze Stadt ist zum Hinduismus übergetreten.«
Dem Esoterik-Anzeiger von dieser Woche zufolge ist der Grund dafür die sprechende Judaskuh.
Im Schlachthaus geht es immer wieder darum, Kühe dazu zu bringen, auf die Rutsche zu klettern, die sie zur Tötung bringt. Kühe, die mit Lastwagen von den Farmen herantransportiert wurden, sind verwirrt und verängstigt. Nachdem sie stunden- oder tagelang auf der Ladefläche zusammengedrängt waren, während der ganzen Fahrt wach und ohne Wasser, werden die Kühe zu den anderen Kühen auf der Mastweide vor dem Schlachthaus getrieben.
Wie man sie dazu bringt, auf die Rutsche zu klettern? Dafür gibt es die Judaskuh. So nennt man diese Kuh wirklich. Es ist eine Kuh, die im Schlachthaus lebt. Sie mischt sich unter die zur Schlachtung bestimmten Kühe und führt sie auf die Rutsche. Die völlig verängstigten Kühe würden niemals die Rutsche betreten, wenn die Judaskuh nicht vorangehen würde.
Im letzten Augenblick vor der Axt oder dem Messer oder dem Stahlbolzen durch den Schädel, in diesem letzten Augenblick tritt die Judaskuh zur Seite. Sie überlebt, um die nächste Herde in den Tod zu führen. Sie tut das ihr Leben lang.
Bis, so schreibt der Esoterik-Anzeiger, die Judaskuh des Schlachthauses zu Stone River eines Tages damit Schluss machte.
Die Judaskuh stellte sich vor den Eingang des Schlachtraums und blockierte ihn. Sie weigerte sich, beiseite zu treten und die Herde in den Tod gehen zu lassen. Die gesamte Schlachthausbelegschaft war Zeuge, als die Judaskuh sich auf die Hinterbeine setzte – genau so, wie ein Hund sitzt – und so vor dem Eingang sitzen blieb, alle nacheinander mit ihren braunen Kuhaugen ansah und dann zu sprechen anhob.
Die Judaskuh sprach.
Sie sagte: »Hört auf, Fleisch zu essen.«
Die Stimme der Kuh war die einer jungen Frau. Die hinter ihr aufgereihten Kühe traten von einem Bein aufs andere und warteten.
Die Leute vom Schlachthaus rissen vor Staunen so schnell den Mund auf, dass ihnen die Zigaretten auf den blutigen Boden fielen. Einer verschluckte seinen Kautabak. Eine Frau schrie durch die Finger.
Die Judaskuh blieb sitzen. Sie hob ein Vorderbein, zeigte mit dem Huf auf die Leute und sagte: »Der Weg zu Moksha führt nicht über Schmerz und Leiden anderer Lebewesen.«
»Moksha«, schreibt der Esoterik-Anzeiger, ist Sanskrit und bedeutet »Erlösung«, das Ende des karmischen Kreislaufs der Reinkarnation.
Die Judaskuh sprach den ganzen Nachmittag. Sie sagte, Menschen hätten die natürliche Welt zerstört. Sie sagte, die Menschheit müsse aufhören, andere Spezies auszurotten. Der Mensch müsse seine Zahl beschränken, er müsse ein Quotensystem einführen, das nur einem kleinen Prozentsatz der Lebewesen des Planeten gestattet, zur menschlichen Art zu gehören. Die Menschen könnten leben, wie sie wollten, solange sie nicht die Mehrheit darstellten.
Die Kuh lehrte die Leute ein Hindi-Lied. Sie ließ sie alle singen und schwenkte den Huf, um den Takt vorzugeben.
Die Kuh beantwortete alle ihre Fragen über das Wesen von Leben und Tod.
Die Judaskuh predigte einfach immer weiter.
Jetzt, hier und jetzt, Sarge und ich, wir sind erst später da. Auf Hexenjagd. Wir sehen uns die Kühe an, die an jenem Tag alle aus dem Schlachthaus freigelassen wurden. Die Fabrik steht leer und still am Rand der kleinen Stadt. Jemand streicht den Betonbau mit rosa Farbe an. Hier soll ein Aschram entstehen. Die Mastweide ist mit Gemüse bepflanzt worden.
Die Judaskuh hat seither kein Wort mehr gesprochen. Sie frisst das Gras in den Vorgärten. Sie trinkt aus Vogeltränken. Die Leute hängen ihr Kränze aus Gänseblümchen um den Hals.
»Die haben den Okkupationszauber benutzt«, sagt Sarge. Wir können nicht weiterfahren, weil ein mächtiges Wildschwein vor unserem Auto bedächtig die Straße überquert. Andere Schweine und Hühner
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