Lullaby (DE)
Helens Blick fliegt vom blutenden Oyster zu den über uns kreisenden Staren auf, und ein Vogel nach dem anderen stürzt zur Erde. Ihr schwarzes Gefieder schimmert in öligem Blau. Ihre toten Augen sind nur noch schwarze Perlen. Oyster hält sich das Gesicht. Die Hände sind voller Blut. Helen starrt in den Himmel, von wo die glänzenden schwarzen Leiber einer nach dem andern um uns herum zischend auf den harten Boden schlagen.
Konstruktive Destruktion.
31
Eine Meile außerhalb der Stadt hält Helen auf dem Seitenstreifen des Highways. Sie macht die Warnblinklichter an. Den Blick starr auf die Hände gerichtet, die hautengen Fahrerhandschuhe aus Kalbsleder am Steuerrad, sagt sie: »Aussteigen.«
Auf der Windschutzscheibe kleben kleine Kontaktlinsen aus Wasser. Es beginnt zu regnen.
»Okay«, sagt Oyster und stößt die Tür auf seiner Seite auf. »So macht man das mit Hunden, die man nicht stubenrein kriegt.«
Sein Gesicht und die Hände sind blutverschmiert. Eine Teufelsfratze. Sein kaputtes blondes Haar steht ihm steif und rot wie Teufelshörner von der Stirn ab. Sein roter Ziegenbart. In all diesem Rot sind seine Augen weiß. Es ist nicht das Weiß der weißen Fahnen der Kapitulation. Es ist das Weiß hart gekochter Eier, verkrüppelte Hühner in engen Käfigen, das Elend der Massentierhaltung, Leid und Tod.
»Genau wie Adam und Eva, die aus dem Paradies vertrieben werden«, sagt er. Oyster steht auf dem Kies des Seitenstreifens und beugt sich zu Mona hinunter, die noch auf der Rückbank sitzen geblieben ist. Er sagt: »Kommst du, Eva?«
Es geht nicht um Liebe, es geht um Macht.
Hinter Oyster geht die Sonne unter. Hinter ihm wachsen russische Disteln und schottischer Ginster und Kudzu. Hinter ihm ist die ganze Welt durcheinander geraten.
Und Mona, mit den Trümmern der westlichen Zivilisation im Haar, mit den Bruchstücken von Traumfänger und I-Ging, sie betrachtet die schwarzen Fingernägel in ihrem Schoß und sagt: »Oyster, es war falsch, was du getan hast.«
Oyster streckt eine Hand ins Auto, greift mit seiner rot verkrusteten Hand nach ihr und sagt: »Mulberry, du magst ja kräutermäßig gute Absichten haben, aber aus dieser Reise wird nichts.« Er sagt: »Komm mit mir.«
Mona beißt die Zähne zusammen, wendet ihm das Gesicht zu und sagt: »Du hast mein indianisches Handwerksbuch weggeworfen.« Sie sagt: »Dieses Buch hat mir sehr viel bedeutet.«
Manche Leute denken immer noch, Wissen sei Macht.
»Mulberry, Schätzchen«, sagt Oyster und streicht ihr übers Haar, das daraufhin an seiner blutigen Hand kleben bleibt. Er schiebt ihr eine Strähne hinters Ohr und sagt: »Das Buch war der letzte Scheiß.«
»Okay«, sagt Mona, rückt außer Reichweite von ihm ab und verschränkt die Arme.
Und Oyster sagt: »Okay.« Und schlägt die Autotür zu. Seine Hand hinterlässt auf dem Fenster einen blutigen Abdruck.
Oyster hebt die roten Hände, tritt einen Schritt zurück und sagt kopfschüttelnd: »Mich kannst du vergessen. Ich bin auch bloß eins von Gottes Krokodilen, die du im Klo runterspülst.«
Helen lässt den Motor an. Sie betätigt einen Schalter, worauf das Schloss auf Oysters Seite zuschnappt.
Und gedämpft und abgerissen, hört man den ausgesperrten Oyster schreien: »Du kannst mich das Klo runterspülen, aber dann fresse ich eben Scheiße.« Er brüllt: »Und ich wachse auch davon weiter.«
Helen setzt den Blinker und fädelt sich in den Verkehr ein.
»Du kannst mich vergessen«, schreit Oyster. Mit seinem roten kreischenden Teufelsgesicht, mit seinen großen weißen Zähnen schreit er: »Aber das heißt nicht, dass ich nicht mehr existiere.«
Aus irgendeinem Grund muss ich an den ersten Schwammspinner denken, der 1860 in Medford, Massachusetts, aus einem Fenster geflogen war.
Und beim Fahren tippt sich Helen mit einem Finger ans Auge, und als sie die Hand wieder ans Steuer legt, ist der Handschuhfinger dunkler als vorher. Nass. Und so oder so. Mehr oder weniger. Das ist ihr Leben.
Mona birgt das Gesicht in beide Hände und beginnt zu schluchzen.
Ich zähle 1, zähle 2, zähle 3 ... und mache das Radio an.
32
Auf der Landkarte wird der Ort als Stone River bezeichnet. Stone River, Nebraska. Aber als Sarge und ich dort ankommen, ist das Schild am Ortseingang mit dem Namen »Shivapuram« überpinselt.
Nebraska.
17000 Einwohner.
Auf der Straße, breitbeinig über der gestrichelten Mittellinie, steht eine braunweiße Kuh, um die wir herumfahren müssen. Die Kuh ist mit
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